Eurozentrismus setzt den Rahmen für Restitution
Eine selektive Definition des afrikanischen Kulturerbes setzt das kolonialistische Paradigma fort*
*übersetzt aus dem Englischen von Robin Cackett
Seit André Malraux 1959 bis 1969 das neu geschaffene Amt eines Kultusministers bekleidete, wird in Frankreich Kunstförderung in Afrika als Mittel der sanften Machtausübung eingesetzt. Als Präsident Emmanuel Macron im November 2017 verkündete, einen Fünfjahresplan zur „temporären oder definitiven Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes an Afrika“ auszuarbeiten, witterten daher viele Kommentatoren politische Motive hinter dem Versprechen. Man argwöhnte, Macron wolle damit den Zorn über die französische Einwanderungspolitik und die Präsenz französischer Truppen in Westafrika besänftigen. Einige Kritiker sahen darin auch den billigen Versuch, sich mit dieser scheinbar großzügigen Geste des französischen Kolonialerbes zu entledigen. Die Sache scheint umso dringlicher, als Frankreich in seinen ehemaligen Kolonien wirtschaftlich rasant an Boden gegenüber China verliert – so etwa beim Wettlauf um lukrative Ölförderverträge vor der senegalesischen Küste.
Nichtsdestotrotz ist die politische Analyse in den vergangenen Jahren weit hinter einer moralischen Empörung zurückgeblieben, die sich aus der endlosen Wiederholung einer dubiosen Statistik speist, derzufolge sich 90 bis 95 Prozent des afrikanischen Kulturerbes außerhalb des Kontinents in den großen Museen der Welt befänden. Die Autoren des letzten, zur Restitutionsfrage für Macron erstellten Berichts, Bénédicte Savoy und Felwine Sarr, schreiben diese Statistik dem Kunsthistoriker Alain Godonou zu, der 2007 schätzte, dass die „Bestände“ einzelner afrikanischer Museen „kaum je mehr als 3000 Objekte des kulturellen Erbes umfassen“. Doch Godonous Einschätzung der Größe afrikanischer Sammlungen liegt mitunter dramatisch daneben. Einige der berühmtesten Werke der kanonischen afrikanischen Kunst gehören dem Nigerianischen Nationalmuseum und laut einem 2008 für die Ford Foundation von Foster + Partners angefertigten Zwischenbericht verfügt diese Vorzeigeinstitution in Lagos über 50.000 Kunstwerke, die aus der Zeit von 900 v.Chr. bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts reichen. Zum Vergleich: Das Musée Quai Branly-Jacques Chirac in Paris hält schätzungsweise 70.000 Objekte aus Ländern südlich der Sahara in seinen Beständen.
Darüber hinaus muss man sich fragen, was es eigentlich heißen soll, dass sich 90 bis 95 Prozent des afrikanischen Kulturerbes in Übersee befinden? Was genau umfasst der Begriff des „Erbes“ und was nicht? Aus meiner eigenen Forschung kann ich berichten, dass 2018 in der Demokratischen Republik Kongo bei den Östlichen Pende große Gruppen von Knaben initiiert wurden. Die Jungen lernten rund 125 Lieder, verbrachten zwei bis vier Stunden täglich damit, ihre Tanztechnik zu perfektionieren, und beherrschten eine Sammlung von Sprachformeln, die für die Teilnahme an den öffentlichen Prüfungen und an den zeremoniellen Maskentänzen nötig sind. Nach Godonous Berechnung wäre an dieser kulturellen Institution allein die vom Körper des Tänzers losgelöste Holzmaske als Kulturerbe anzusehen, nicht jedoch der ganze Reichtum an künstlerischen und kulturellen Praktiken, der sich nicht so wohlfeil in Museen europäischen Stils transferieren lässt.
In einer Online-Petition zugunsten der Restitution von belgischen Objekten wird klarer, worum es bei dem Argument tatsächlich geht: „Über 90 Prozent der klassischen afrikanischen Kunstwerke befinden sich außerhalb Afrikas“ – was die Statistik im Auge hat, sind jene Kunstformen, die von Künstlern der frühen Moderne wie Picasso und Matisse bewundert wurden. Mit dem Ausdruck „klassisch“ werden in den kommerziellen Galerien zumeist Werke bezeichnet, die während der ersten Hälfte der Kolonialzeit, also etwa zwischen 1885 und 1930, eingesammelt wurden. Eine derart selektive Auffassung davon, was als kulturelles Erbe gelten darf, setzt nahtlos das kolonialistische Paradigma fort, afrikanische Kulturleistungen nach europäischen Kriterien zu definieren. Sie perpetuiert darüber hinaus die irrige Vorstellung, dass die kulturelle Produktivität in Afrika 1885 praktisch zum Erliegen gekommen und alles Spätere illegitim und qualitativ minderwertig sei.
Es ist aus zwei Gründen wichtig, den Eurozentrismus in Godonous Statistik zu erkennen. Erstens ist er von zentraler Bedeutung für Macrons Absicht, die Restitutionsfrage von vornherein auf Objekte aus Afrika zu beschränken. Die mächtige Lobby, die sich für den Erhalt der Werke aus Griechenland, Ägypten und China stark macht, hat nichts zu befürchten. Das Afrika südlich der Sahara sei, so wird argumentiert, aufgrund seiner kulturellen Verarmung ein Sonderfall.
Zweitens, obwohl in den Beständen afrikanischer Museen, zahlreiche alltägliche Artefakte erscheinen, hat die Bedeutung der figurativen Skulptur für das Verständnis dessen, was als kostbares Kulturerbe gilt, es den afrikanischen Institutionen, die dem Vorbild europäischer Nationalmuseen nachgebildet sind, sehr erschwert, die Wertschätzung des lokalen Publikums zu gewinnen. Die Kolonialisten und die ihnen nachfolgenden Vertreter der UNESCO und verschiedener NGOs bauen schon seit 80 oder 100 Jahren in Afrika Museen. Es wäre an der Zeit zu fragen, warum es ihnen nicht gelungen ist, ein nennenswertes afrikanisches Publikum heranzuziehen. Die Gründe sind vielschichtig. So ist, zum Beispiel, nur eine Minderheit von ethnischen Gruppen für jene Skulpturen verantwortlich, die in den Kompendien über afrikanische Kunst gepriesen werden. Kann ein Museum es rechtfertigen, seine kostbaren Ressourcen nur für die Glorifizierung einer Handvoll ethnischer Gruppen zu verwenden? Viele dieser Skulpturen waren überdies einst religiöse Kultfiguren, deren ganze Existenz durch den Religionswandel im 20. Jahrhundert von Grund auf in Frage gestellt wurde. Seit den 1910er Jahren ist es in West- und Zentralafrika aus einer Vielzahl von Gründen immer wieder zu verheerenden ikonoklastischen Bewegungen gekommen, und diese Tendenz setzt sich bis in die Gegenwart fort.
Damit Macrons wirtschaftliche Pläne Erfolg haben, muss sich die Wahrnehmung Frankreichs in Afrika möglichst rasch ändern. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass in dem jüngsten Bericht gleich fünf Mal ein „schnelles“ Handeln gefordert wird. Allein, schon die Analyse einer einzigen Statistik macht deutlich, dass die Komplexität der Fragen, die sich im Zusammenhang mit Restitutionsforderungen stellen, nach einer sorgfältigen, substanziellen und nuancierten Forschung verlangt. In seiner bissigen Entlarvung dessen, was er den „weißen industriellen Heilsbringer-Komplex“ nennt, gemahnt der Schriftsteller Teju Cole: „Wenn wir uns in das Leben anderer Menschen einmischen, ist gebührende Sorgfalt das Mindeste, was man erwarten kann.“
Dieser Kommentar wurde zuerst auf Englisch in der Zeitung „The Art Newspaper“ veröffentlicht und für diesen Blog übersetzt. Der Beitrag findet sich hier.
Z. S. Strother hat mehr als drei Jahre Feldforschung in Afrika zu kunsthistorischen Themen durchgeführt, insbesondere in der Demokratischen Republik Kongo. Zu ihren Veröffentlichungen gehören Inventing Masks: Agency and History in the Art of the Central Pende (University of Chicago Press, 1998) und Humor and Violence: Seeing Europeans in Central African Art, 1850-1997 (Indiana University Press, 2016). In ihreaktuellen Forschung befasst sich Z.S. Strother mit afrikanischem Ikonoklasmus (vgl. Perspective: actualité en histoire de l’art (Revue scientifique de l’Institut national d’histoire de l’art), Special issue: “Détruire.” 2018-2, 219-246).