Lässt sich der koloniale Blick umdrehen?
Das Rautenstrauch-Joest Museum befasst sich mit der Pionierarbeit seines früheren Direktors Julius Lips
Über Wochen blickte sie mir in Köln immer wieder von Plakaten und Fahnen entgegen. Eine furchteinflößende Figur (Abb. 1). Groß aufgerissene Augen, den Mund weit geöffnet, die Zähne gebleckt, das Gesicht kreideweiß, der linke Arm über den Kopf hin ausgestreckt, so dass man kaum umhin kam, sich an die Begrüßungsgeste der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte erinnert zu fühlen. Daneben die Überschrift: „Der Wilde schlägt zurück“. Ist diese Figur der Wilde?, fragte ich mich. Und gegen wen schlägt er zurück?
Abb. 1.
Bei der Figur handelt es sich um eine Schreckfigur von den Nikobaren, einer Inselgruppe im indischen Ozean. Angefertigt wurde sie wohl um 1900. Solche Schreckfiguren dienten der Abwehr von Krankheiten und wurden in den Eingangsbereichen der Häuser aufgestellt. Die Figur dient als Titelbild der Erstausgabe von Julius Lips’ (1895-1950) 1937 publizierten Buch „The Savage Hits back or the White Man through Native Eyes“[1]. Auf dem Buchcover erscheint sie allerdings als Zeichnung (Abb. 2).
Abb. 2.
Der Künstler hat dafür eine seitliche Ansicht gewählt. In dieser Ansicht erscheinen die Augen und Zähne der Figur weniger bedrohlich als auf den Kölner Plakaten, die eine Fotografie der Figur in Frontalansicht zeigen. Dafür erinnert die Geste, die die Figur ausführt umso mehr an einen Hitlergruß. Die Ambivalenz die hier erzeugt wird, war wohl durchaus beabsichtigt. Lips wollte mit seinem Buch den sogenannten “Wilden“ das, was man heute „agency“ nennen würde zusprechen. Über eine große Auswahl von nicht-europäischen Kunstwerken, die Europäer*innen darstellen, versuchte er den kolonialen Blick umzudrehen. Nicht mehr der Kolonisierte sollte im Fokus des Kolonisators stehen, sondern der Kolonisator im Fokus des Kolonialisierten. Die Figur auf dem Titel ließ vermutlich bereits die ersten Leser*innen von Lips’ Buch kurz stutzen. Wer war hier der eigentliche „Wilde“? Waren es wirklich die „Naturvölker“, wie Lips sie romantisierend nannte? Oder doch die dargestellten Europäer*innen – und damit die sich in Europa ausbreitenden Faschisten?
Die Figur ist auch auf dem Titel des Katalogs der Ausstellung „Der Wilde schlägt zurück. Kolonialzeitliche Europäerdarstellungen der Sammlung Lips“, die vom 16. März bis zum 03. Juni im Rautenstrauch-Joest Museum zu sehen war, abgebildet. Hier wurde wieder eine Frontalansicht benutzt. Allerdings ist die Figur nur schematisch zu sehen (Abb. 3). Sie wurde auf drei Farbtöne, nämlich weiss, grau und rot, reduziert und erscheint verpixelt.
Abb. 3.
Um wessen Darstellung es sich hier genau handelt lässt sich nicht mehr erkennen. Die Ambivalenz von Lips’ Titelbild bleibt also bestehen, wird allerdings weiter verwischt. Die Figur befindet sich wortwörtlich in einer „Grauzone“. Julius Lips‘ Werk zu würdigen und gleichzeitig die Grauzonen in seinen, im Sinne der heutigen Forschung, oft sehr einseitigen Interpretationen aufzuzeigen, war dann auch Inhalt der Ausstellung. Hier begegnete die Figur den Besucher*innen dreidimensional im Eingangsbereich (Abb. 4). Die Besucher*innen erfuhren, dass Lips die Figur als eine Abbildung eines „Sohnes Englands“ deutete, dass Schreckfiguren seit der Ankunft der Briten europäische Attribute aufzeigten, aber auch, dass sie wegen einer hohen Nachfrage möglicherweise gezielt für den europäischen Markt produziert wurden.
Abb. 4. Foto: Brus.
Die von Lips’ als Titelbild ausgewählte Figur war wohl nicht als ein solches Souvenir gedacht. Trotz allem zeigt der Verweis des Museums auf einen europäischen Markt, dass die Interpretation der Figur vielschichtiger sein könnte, als sie Lips seinerzeit darstellte. Dies wird auch an weiteren Beispielen offensichtlich. So wurde zum Beispiel eine Figur aus Argillit der kanadischen Haida, die wohl den Polarforscher Kapitän Wilkes darstellt (Abb. 5), oder eine Holzfigur des nigerianischen Künstlers Onajeje Odulate, die eine Britischen Soldaten zeigt (Abb. 6) dezidiert für den Verkauf an Europäer*innen hergestellt. Sie zeigen also nicht nur den Blick der Künstler auf die Europäer*innen, sondern auch wie die Europäer*innen sich selber sehen wollten.
Abb. 5. Foto: Brus.
Abb. 6. Foto: Brus.
Julius Lips selbst hatte mal eine ähnliche Ausstellung geplant, wie diejenige, die bis vor kurzem im Rautenstrauch-Joest Museum zu sehen war. Lips hatte sich in den 1920er Jahren bei dem damaligen Direktor des Rautenstrauch-Joest Museums, Fritz Graebner, in Völkerkunde habilitiert. 1928 wurde er selbst Direktor des Museums und 1930 außerordentlicher Professor für Völkerkunde an der Universität zu Köln. Seit den 1920er Jahren sammelte er nicht-europäische Darstellungen von Europäer*innen. Zu einer Ausstellung sollte es allerdings nie kommen. 1933 wurde Lips von seinem Posten im Rautenstrauch-Joest Museum „beurlaubt“ und vom Dienst an der Universität suspendiert. 1934 wanderte erst nach Frankreich, dann in die USA aus, wo er eine befristete Stelle an der Columbia University annahm. Im amerikanischen Exil entstand dann auch „The Savage Hits Back“. Im Kontext der zeitgeschichtlichen Ereignisse gab Lips seinem Buch einen dezidiert antifaschistischen Ton. Eine deutsche Version sollte erst 1983, lange nach Lips’ Tod, unter dem Titel „Der Weiße im Spiegel der Farbigen“ erscheinen.
Die Ausstellung im Rautenstrauch-Joest Museum war in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil folgte den Kapiteln von Lips’ Werk: „The white man’s ships“, „Europe marches in“, „Strange things around the white man“, „Missionaries, monks and the new god“, „The white merchant“, „The white woman“ und „The chieftains of the white“. Zu jedem Kapitel waren ein oder mehrere Objekte zu sehen, der größte Teil davon aus der Sammlung Lips (Abb. 7).
Abb. 7. Foto: Brus.
Kurze Zitate aus Lips’ Buch leiteten die einzelnen Ausstellungsteile ein. Diese Zitate wurden kontextualisiert und mit neueren Forschungsergebnissen kontrastiert. So erfuhr die Besucher*in zum Beispiel, dass eine Figur aus dem 19. Jahrhundert aus der Demokratischen Republik Kongo nicht, wie Lips annahm, einen europäischen Missionar mit einer Fotokamera darstellte. Vielmehr handelt es sich um eine „Grabfigur eines hochrangigen Afrikaners, der eine Flasche oder Brieftasche in der Hand hält“.
Der zweite Teil der Ausstellung diente der Kontextualisierung von Lips’ Arbeit. Hier erfuhr die Besucher*in zum einen, dass viele Darstellungen weil sie als touristische Souvenirs produziert worden waren, relativ billig zu erstehen waren. Für den Kunstmarkt waren sie ungeeignet, weil sie als nicht authentisch galten. Dies wirft natürlich auch Fragen im Hinblick auf ethnologischen Sammlungen und den Markt mit ethnologischen Objekten insgesamt auf. Wieviele Objekte sind der Forschung und den Museen verloren gegangen weil sie eine Kultur im Wandel und im Kontakt mit dem Westen zeigten, und nicht dem Bild einer reinen ursprünglichen Gesellschaft entsprachen? Wie sollten ethnologische Museen heute mit dieser Lücke umgehen?
Zum anderen wird im zweiten Teil der Ausstellung Julius Lips’ nicht unumstrittene Biographie erläutert. In der Einleitung zu der Erstausgabe von „The Savage Hits Back“ hatte Lips sich zum Beispiel als Widerständler gegen den Nationalsozialismus dargestellt. Tatsächlich hatte auch Lips anfangs noch versucht seine Stelle zu behalten und dafür sogar seine Mitgliedschaft in der SPD geleugnet. Beeindruckend ist an diesem letzten Teil der Ausstellung allerdings der Versuch die Verschränkung von Lips’ Vita mit derjenigen zweier Künstler deren Werke ihm als Anschauungsmaterial dienten, die er aber nicht namentlich kannte, aufzuzeigen: dem australischen Aborigine Tommy McRae, sowie dem bereits erwähnten nigerianischen Yoruba Bildhauer Onajeje Odulate. Auf einer großen Leinwand werden die Biographien der drei Männer anhand von Zeitstrahlen dargestellt (Abb. 8). Dies wirkt manchmal etwas forciert – Tommy McRae starb als Julius Lips gerade einmal fünf Jahre alt war – zeigt aber die globalgeschichtlichen Verflechtungen auf, die die Arbeiten der drei Männer beeinflussten.
Abb. 8. Foto: Brus.
Tatsächlich hätte man sich in der Ausstellung noch etwas mehr von solchen Verflechtungsgeschichten gewünscht. Nur zwei Räume standen der Ausstellung zur Verfügung, die damit sehr knapp gehalten war. Auch der Ausstellungskatalog bietet leider wenige vertiefende Informationen.[2] Allerdings ist für Ende 2018 ein Begleitband mit wissenschaftlichen Aufsätzen geplant.[3] Für ein Thema, welches sowohl für das Rautenstrauch-Joest Museum, als auch für die Stadt Köln, sowie für die Geschichte des Faches Ethnologie von großer Bedeutung ist, ist diese Knappheit sehr bedauernswert. Ich verließ die Ausstellung beeindruckt von der Arbeit Julius Lips’ und der Kurator*innen, welche Lips’ Überlegungen weiterdachten oder relativierten. Ich verließ die Ausstellung aber auch darüber sinnierend, was ich mir für zukünftige Ausstellungen mit der Sammlung Lips, denen hoffentlich mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stehen würden, wünsche.
Zukünftige Ausstellungen könnten zum Beispiel Lips’ Kritik an der traditionellen Völkerkunde zum Anlass nehmen, die Geschichte des Faches Ethnologie sowie der ethnologischen Museen zu thematisieren. Beide Themen werden leider – trotz einiger sehr guter Ansätze – noch immer zu selten zum Anlass von Ausstellungen genommen. Von Lips’ romantisierendem Blick auf nicht-europäische Kulturen ausgehend könnte eine Linie zu Michel Taussigs[4] differenzierteren Konzepten der Mimesis und Alterität, bis zu dem zeitgenössischen Verständnis von Intersektionalität gezogen werden. Generell würde ich mir wünschen, dass wissenschaftliche Arbeiten viel öfter zum Thema von Ausstellungen würden. Somit könnten die sich ändernden Methoden und Theorien einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Kurator*innen und Wissenschaftler*innen würden quasi einen ethnologischen Blick auf ihre eigenen Arbeiten werfen.
Ich würde mir auch wünschen, dass eine zukünftige Ausstellung die globalen Verflechtungen an Hand der Biographie der Objekte – sofern diese nachzuvollziehen sind – aufzeigt. Dafür könnten auch die Abbildungen aus Lips’ Werk, die in der jetzigen Ausstellung etwas ungeordnet und vor allem unkommentiert als Diaprojektion abgebildet sind, herangezogen werden. Diese Abbildungen werfen nämlich auch die wichtige Frage auf, was es denn bedeutet, dass Lips sein Buch schlussendlich vor allem an Hand von Abbildungen und nicht an Hand der dreidimensionalen Objekte, verfassen musste.
Eine solche Ausstellung sollte auch den generalisierenden Begriff des „Wilden“ aufbrechen. Lips selbst beobachtete in der Einleitung zu „The Savage Hits Back“, dass die einzelnen Werke immer im Kontext der jeweiligen Zeit und Kultur die sie hervorgebracht hat, gesehen werden müssten. In seinem Werk verschmelzen die einzelnen Objekte dann doch zu einem einzigen nicht-europäischen Bollwerk gegen den westlichen objektivierenden Blick. Wo die Objekte entstanden sind und wer sie hergestellt hat, wurde für Lips zweitranging gegenüber dem, was sie darstellten. Leider war auch in der Ausstellung nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, unter welchen Bedingungen, die Objekte entstanden sind. Hier wären bereits eine Weltkarte und einige kurze historischen Eckdaten hilfreich gewesen. Gleiches gilt für die Zeitungsartikel von Hermann Baumann und Julius Lips, die den Besucher*innen leider völlig ohne Kommentare als Quellen präsentiert wurden.
Zukünftige Ausstellungen sollten auch den Bezug zur Gegenwart nicht scheuen. Lips’ Herangehensweise und Sprache wirken heute bevormundend und oft sogar rassistisch. Bereits 1985 sah sich Eva Lips in der Einleitung zu der deutschen Ausgabe von „The Savage Hits Back“ genötigt, ihren Mann dafür zu verteidigen, dass er seinerzeit Begriffe wie „Naturvölker“, „Primitive“ oder „Wilde“ benutzte. „Wo solche Termini bei Julius Lips’ erscheinen, stehen sie als Synonyme für ‚Reinheit’, einer Reinheit des Herzens, der jede Verstellung fremd ist,“ schrieb sie.[5] Auch die Kurator*innen der Ausstellung im Rautentstrauch-Joest wiesen auf Lips’ paternalistische Sprache hin und grenzten sich von ihr ab. Lips’ wohlwollende Haltung mündete in einer Infantilisierung. Indem er nicht-europäische Kulturen zu Wort kommen ließ, sprach Lips paradoxerweise doch über und vor allem für sie. Aber ist dies soviel anders als das, was heute – trotz oder teilweise sogar auf Grund zahlreicher partizipativer Projekte – noch in den meisten ethnologischen Museen passiert? Und wie oft kamen auch in den kritischen oder gutgemeinten Kommentaren zur sogenannten „Flüchtlingskrise“ geflüchtete Menschen selbst zu Wort? Lips’ Arbeit könnte auch zum Anlass genommen werden, die Scheu des Westens vor einem tatsächlichen Blick von außen zu reflektieren.
Schlussendlich würde ich mir wünschen, dass die Sammlung Lips in der Dauerausstellung des Rautenstrauch-Joest Museums sichtbarer wird. Lips’ Arbeit mag nicht mehr zeitgemäß sein, sein Ansatz aber bleibt bis heute revolutionär. Die Objekte, die Lips zusammengetragen hat erlauben es, einen Blick auf die Kolonialgeschichte zu werfen, der in vielen Ausstellungen – mangels einer Sammlung Lips – bis heute fehlt. Das Rautenstrauch-Joest Museum könnte hier Pionierarbeit leisten. Die Ausstellung „Der Wilde schlägt zurück“ war hierfür ein Anfang.
Die Ausstellung „Der Wilde schlägt zurück“ Kolonialzeitliche Europäerdarstellungen der Sammlung Lips war vom 16. März bis zum 03. Juni im Rautenstrauch-Joest Museum Kulturen der Welt zu sehen. Für November 2019 ist eine von Anna Brus und Anselm Franke kuratierte Ausstellung mit den Objekten der Sammlung Lips im Haus der Kulturen der Welt in Berlin im Rahmen der Reihe „Kanonfragen“ geplant.
Steffi de Jong arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Museum Studies, den Memory Studies, der Public History und der Sinnesgeschichte. Sie war Mitarbeiterin des internationalen Forschungsprojekts Exhibiting Europe und promovierte 2012 an der Norwegian University of Science and Technology in Trondheim. Ihr Buch “The Witness as Object. Video Testimony in Memorial Museums” erschien 2018 bei Berghahn Books.
E-mail: Steffi.dejong@uni-koeln.de
Website: http://neuere-geschichte.phil-fak.uni-koeln.de/948.html?&L=0
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[1] Lips, Julius, The Savage Hits Back. Or the White Man through Native Eyes, London 1937.
[2] Brus, Anna, Halder, Lucia & Himmelheber, Clara: „Der Wilde schlägt zurück“. Kolonialzeitliche Europäerdarstellungen der Sammlung Lips, Köln 2018.
[3] Brus, Anna (Hg.): The Savage Hits Back Revisited. Art and Alterity in the Colonial Encounter, Berlin 2018.
[4] Taussig , Michael, Mimesis and Alterity: A Particular History of the Senses, New York 1993.
[5] Lips, Eva, Vorwort, in Julius Lips, Der Weisse um Spiegel der Farbigen, München 1985.