Die Frösche haben klug gequakt, aber die Kühe trinken weiter Wasser aus dem Weiher
Zur Debatte „Geteiltes Erbe? Koloniales Wissen in Geschichte und Gegenwart“ im Hamburger Völkerkundemuseum am 26. September 2017
© Museum für Völkerkunde Hamburg. Photos: Arne Bosselmann
Es wird in den letzten Jahren selten vorgekommen sein, dass die 205 Sitzplätze des Patina-überzogenen, rundum holzgetäfelten großen Hörsaals des Hamburger Völkerkundemuseums (Baujahr 1912) bis auf den letzten Platz besetzt waren.[1] Gleichzeitig drängelten sich im Foyer draußen vor der Türe mehr als 80 Menschen, die nicht mehr eingelassen werden konnten. Das Museum unter neuer Führung (Dr. Barbara Plankensteiner, zuvor Weltkulturenmuseum Wien und Yale University Art Gallery) hatte zur Diskussion über „Koloniales Wissen in Geschichte und Gegenwart“ eingeladen und ein großes Publikum war gekommen. Offenbar gibt es im Bildungsbürgertum gegenwärtig so etwas wie ein Momentum, eine neue Dynamik und Intensität in der Auseinandersetzung mit dem kolonialen „Erbe“ – nachdem postkoloniale AktivistInnengruppen und einige wenige HistorikerInnen, EthnologInnen und benachbarte WissenschaftlerInnen so lange sehr marginalisiert gegen die „koloniale Amnesie“ und auch Apathie angekämpft haben. Dass wir es auch mit einer kolonialen Aphasie zu tun haben, einer politisch und gesellschaftlich tief verankerten, historisch erworbenen, multimodalen Sprach(zer)störung, schien in den Podiumsgesprächen und in der Publikumsdebatte immer wieder auf. Diese koloniale Sprachstörung wurde von den eingeladenen PodiumsteilnehmerInnen aber zumindest punktuell auch blitzgescheit herausgearbeitet und kommentiert.
© Museum für Völkerkunde Hamburg. Photos: Arne Bosselmann.
Auf dem Podium (von links nach rechts): Elisio Macamo, Silke Göttsch-Elten,
Barbara Plankensteiner, Joachim Telgenbüscher, Jürgen Zimmerer, Anne Kwaschik.
Dr. Anne Kwaschik, Wissenshistorikerin und Wissensforscherin derzeit in Paris, eröffnete die Diskussion mit einem deutlichen Statement zur Zentralität von Wissen (und nicht etwa nur Öl, Gewürzen und Kopra) als vielleicht wichtigster Ressource im Kolonialismus. Sie diagnostizierte eine gletscherschwere Beharrlichkeit und Verkrustung kolonialer Wissensordnungen, die die westlichen und globalen Wissenschaften bis heute prägen. Die Förderung der Area-Studies durch die Bundesregierung, so Kwaschik über ihr eigenes Wissens-Spezialgebiet, folge bis heute den gleichen Argumenten wie im Kolonialismus oder zu Zeiten des Kalten Krieges. Silke Göttsch-Elten, Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Kiel, spannte einen großen Bogen von der Etablierung von Volks- und Völkerkunde im Europa um 1900 und den sie begleitenden Debatten über Primitivismus und „gesunkene Kulturgüter“, die ohne den kolonialen Anschub und Kontext nicht denkbar gewesen wären, bis zur vielstimmigen Kritik an kolonial geprägten Konzepten und Wahrnehmungsschemata, die die ethnologischen Fächer seit den 1970er Jahren formuliert haben. Barbara Plankensteiner (Ethnologin und seit April 2017 neue Direktorin am VKM Hamburg) und der Historiker Jürgen Zimmerer (Hamburg) arbeiteten in einer lebendigen impromptu-Analyse am Beispiel der Begrifflichkeit von „indigenem Wissen“ heraus, wie auch jetzt, genau in dem Moment, in dem wir da am 26.September 2017 im Völkerkunde-Museum-Hörsaal saßen, sprachen und zuhörten, koloniale Wahrnehmungs- und Wissensschemata den Diskurs ordneten und reproduzierten. „Wir sind mittendrin, wir zementieren das jetzt auch hier in dieser Veranstaltung“, so Zimmerer und Plankensteiner in Antwort auf den ansonsten umsichtigen und gut vorbereiteten Moderator und Geo-Journalisten Joachim Telgenbüscher, der Elisio Macamo, African Studies Professor aus Basel, nach dem Beitrag „indigenen“ Wissens am kolonialen Wissen gefragt hatte. Denn die Gegenüberstellung von „indigenem“ versus „anderem“ (westlichem? wissenschaftlichem?) Wissen schreibt ja gerade die dichotomen Schablonen und Hierarchien kolonialer Wissensordnungen fort, die 600 Jahre koloniales Wissen in uns eingeschrieben haben. „Ethnographische Museen haben einiges zur Stereotypisierung und Essentialisierung von Kulturen beigetragen“. Es sei heute unsere Aufgabe, diese Ordnungen (inklusive der Trennung von Kunstmuseum und ethnologischem Museum), die noch immer als vollkommen normal gelten, zu hinterfragen. Die Aufteilung der Welt in Sammlungen und die Fiktion, man könne mit Sammlungen einen ganzen Kontinent beschreiben, „müssen heute gebrochen werden“, so Plankensteiner. Genau diese Schemata bilden das koloniale Erbe, so Zimmerer, das uns am meisten beeinflusst und das am schwersten zu überwinden ist. Es war Elisio Macamo, der überraschend und leise in diesen Dialog noch eine andere Position einführte, die in den Feuilleton-Debatten zur Notwendigkeit postkolonialer Erinnerungspolitiken und einer weitgehenden Neuausrichtung ethnographischer Sammlungen und Museen noch wenig Gehör findet. Präzise erinnerte Macamo daran, dass sprachhygienische Maßnahmen nach dem Motto „vermeide, von indigenem Wissen zu sprechen, weil dieser Sprachgebrauch koloniale Hierarchien weiterführt“ trotz plausibler Begründung Gefahr laufen, die Erfahrungen all derjenigen Menschen zu ignorieren, deren Alltag und Leben massiv und nachhaltig von der Bezeichnung „indigen“ geprägt wurde. Ihre jahrhundertelangen Erfahrungen von Gewalt und Entfremdung müssen überhaupt erst einmal öffentlich Gehör finden: „Darf ich darauf bestehen, als indigen bezeichnet zu werden?“ Vor allem aber entwarf Macamo ein Szenario notwendiger Debatten über europäische und wissenschaftliche Werte. Diese Debatten müssten aktiv den double-bind zur Sprache bringen, der darin besteht, dass Westeuropa die Werte der Aufklärung im Kolonialismus negierte, seine wirtschaftliche und politische Vormachtstellung aber bis heute mit diesen Werten legitimiert. Wir müssen eine Sprache finden, um in der Öffentlichkeit und in den Museen die verschwiegene und vergessene Gewalt-Geschichte des Kolonialismus so zu erzählen, dass sie endlich Teil der offiziellen Geschichte Europas und der Welt wird. Sonst bleibt es dabei, so Macamo im Verweis auf ein afrikanisches Sprichwort, dass „die Frösche, deren Stirnen von Denkfalten zerfurcht sind, quaken und die Kühe weiter Wasser aus dem Weiher trinken.“
Dass dies keineswegs nur oder auch nur primär die Ethnologie und die ethnologischen Museen betrifft, sondern genauso für Geschichte, Geographie, Rechtswissenschaften und Medizin und ganz umfassend für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik gilt, war auf dem Podium Konsens. Konsens herrschte auch in der Einschätzung, dass die Perpetuierung der kolonialen Hierarchien auch heute noch zur Rechtfertigung unseres Lebensstils dient. Konsensfähig war schließlich auch eine differenzierte Einschätzung der Ethnologie, die nicht nur die umfassende koloniale Konstituiertheit dieses Faches im Blick hatte, sondern auch seine kontinuierliche Arbeit für die Anerkennung anderer Formen des Wissens und In-der-Welt-Seins, was sich nicht zuletzt in der Praxis der Ethnologie niederschlägt, das, was im westlichen Wissen als erworben und geprüft gilt, permanent in Frage zu stellen und zu provinzialisieren.
Offen hingegen blieben viele konkrete Fragen zur Zukunft des Hamburger Völkerkundemuseums und der vielen anderen ethnographischen Sammlungen und Museen, die derzeit wegen der ungeklärten Legitimität und Legalität ihrer Sammlungen mit dem Rücken zur Wand stehen. Man ahnte, dass an konkreteren Antworten der breite Podiumskonsens möglicherweise enden würde: Man überfordere die ethnographischen Museen, wenn man jetzt vor allem von Ihnen eine umfassende Aufarbeitung des Kolonialismus und der von der Gesellschaft insgesamt so lange verdrängten Debatte fordere, so Jürgen Zimmerer. Aber Lernorte zu schaffen, die eine aktive Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus zulassen, das müsse doch schon möglich sein. Mehr als 600 Millionen Euro für das Humboldt-Projekt könnten doch nicht einseitig für ein Narrativ ausgegeben werden, dass die „Deutsche Kulturnation ohne ihre Schattenseiten“ darstellen wolle, so Zimmerer. Ethnologische Museen müssten ganz sicher massiv in die Provenienzforschung investieren, antwortete Barbara Plankensteiner, aber es käme einem Versäumnis gleich, wolle man sie zu kolonialgeschichtlichen Museen machen. Zu erahnen war an diesem Septemberabend im Hamburger Völkerkundemuseum, dass die Tage des Namens dieser Institution gezählt sind. Man ahnte aber auch, welche enorme Arbeit postkolonialer Sprachfindung, mehrstimmiger Geschichtsschreibung und der Anerkennung multipler Perspektiven nötig sein wird, um wirklich zu neuen Konzepten und neuen Formen der Kooperation und der Zugänglichmachung zu kommen. Zeit und Geld ist nötig, Wollen und Werte – darauf wies Elisio Macamo immer wieder hin. Noch immer steht eine offizielle Entschuldigung für koloniale Gräueltaten sowie den Völkermord an den Herero aus, noch sind Rückführungen umkämpft, auch da, wo sie gerechtfertigt und möglich wären. Und ein neues Museum, das aus der Geschichte kolonialen Unrechts lernt und andere Geschichten erzählt, muss jetzt gegen eine Öffentlichkeit und Wissenschaft verteidigt werden, in der Rassismen und die Rechtfertigung von Kolonialismus als benevolent – auch darauf wies vor allem Elisio Macamo hin – wieder möglich geworden sind.
Michi Knecht ist Professorin für Ethnologie am Institut für Ethnologie und Kulturwissenschaft der Universität Bremen. Sie untersucht auf der Basis von Ethno-/Praxeographie die Verbindungen zwischen Praktiken der Wissensproduktion und sozialen Formen im Alltagsleben. Dabei kombiniert sie Ansätze der Social, Medical and Cultural Anthropology mit Perspektiven der interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung (STS). Laufende Projekte fragen nach dem Umbruch von Anonymitätsregimen an den Schnittstellen von Technologie/Infrastruktur, Regulation und sozialer Praxis sowie nach Dynamiken von Welfare-Bricolage. Gemeinsam mit Friederike Gesing, Michael Flitner & Katrin Amelang hat sie das Bremen NatureCultures Lab gegründet als Thinktank und Ort der Entwicklung neuer Fragestellungen im Verhältnis Mensch-andere Gattungen, Mensch-Umwelt und Mensch-Körper.
Kontakt: knecht(at)uni-bremen.de
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[1] Die Veranstaltung wurde als Teil des Programms „Geisteswissenschaft im Dialog“ vom Museum für Völkerkunde Hamburg gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaft sowie der Max Weber Stiftung ausgerichtet.