~: Warum das Ethnologon ins Leben hineinlassen? :~
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~: Warum das Ethnologon ins Leben hineinlassen? :~
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°° Von lähmenden Hinterfragungstornados & genießendem Staunen über die Lebensfülle °°
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°°Ein Gebiet, das, wie wir früher glaubten, im Jenseits lag, erweist sich
jetzt […] als Gebiet, das wir täglich begehen.°°
(Suzuki [1937] 1990: 152)
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°°Maintain enough curiosity to notice the strange and wonderful as well as the terrible and
terrifying.°°
(Bubandt/Gan/Swanson/ Tsing 2017: M7)
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°° […] die Freiheit […], die Wirklichkeit als ein wirklich
Gemachtes zu leben.°°
(Taussig [1993] 2014: 56)
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1°~:: Um hier gleich mal damit zu beginnen, diese leere und verwirrend Fragezeichen aufwerfende Worthülle des ‚Ethnologons‘ ein wenig greifbarer werden zu lassen: Das Wesen, die Präsenz des Ethnologons ist vergleichbar mit einem elektro-magnetischen Feld: Als ein global latenter Geist ist das Ethnologon ein überall schlummerndes, immer anzapfbares Potential, das sich über Erdungspunkte (wie etwa Fakultätsgebäude) materialisiert, um (etwa in Form ethnologierenden Menschen, Diskussionen und Büchern) eingefärbt vom spezifisch Örtlichen zu weltlichen Vorhandenheiten zu gerinnen.
Gemäß eines überall latent vorherrschenden Potentials kann das Ethnologon somit an mehreren erdenden Punkten gleichzeitig sein. An ihnen ergießt es sich dabei als auftretend-entladender Kraftfluss in die dingliche Welt hinein, um mit örtlichen Gegebenheiten verschmelzend schließlich in unterschiedlichsten lokal-spezifischen Gemischen und Gemengen aufzugehen.
Aufgrund dieser ortsentbundenen Potentialität, als Geist unterschiedlichst in die Welt aus Fleisch und Blut hinein gerinnend, ist das Ethnologon, aufgelöst in weltlich lokalen Konkretheiten, immer eine besondere, ortsspezifisch gefestigt-formbare Vorhandenheit. Mancherorts kann es dabei eher durch Themen wie Ethnizität, Identität, Postkolonialismus, fachinterne Selbstreflexion oder Anwendungsorientierung gescheckt sein, während es anderorts dann wieder geprägt ist durch thematische Scheckungen wie Arbeit, Aneignungsprozesse und Verwandtschaftsbeziehungen ~ diese unterschiedlichsten Materialisierungen bleiben dabei jedoch nichts anderes, als verschieden gepolte Kristallisationen des einen Ethnologons, das seinem latenten Wesenszug entsprechend überall gleichzeitig existiert, nämlich in ‚Potentia‘, d.h. stets als Möglichkeit, um wie eine schlummernde Kraftquelle unterschiedlichsten Kontexten und lokalen Lebenswelten entsprechend verschieden vermischt aufzuquellen.
2°~:: Das titelgebende ‚Warum Ethnologie?‘ des Blogs lese ich demnach als Aufforderung, sich hier erstmal über ein ‚Was ist die Ethnologie?‘ Gedanken machend die Grundzüge des Ethnologons weiter in Worte abzupacken, um sich ein genaueres Verständnis darüber erschreiben zu versuchen, was für ein Potential da eigentlich aufquellend zu Ethnologien gerinnt: Was ist der Einheit-stiftend gemeinsame Kraftkern, der die Ethnologie mit all seinen Strömungen gegen andere wissenschaftliche Disziplinen wie etwa Philosophie, Physik oder Soziologie abgrenzt? Anders gefragt: Was ist die miteinander verbindende und Strömungen, Traditionen und Denkschulen übergreifende, gemeinsame Essenz der ethnologischen Perspektive ~ kurz ~ wie tickt das Ethnologon eigentlich? ~ diese Frage soll nun etwas gründlicher beleuchtet werden, damit anschließend das ‚Warum Ethnologie‘ nachvollziehbarer angepeilt werden kann.
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3°~:: Wie tickt nun das Ethnologon? Ganz klar, es tickt emisch; eine Emischheit, die sich niederschlägt in der Aufforderung, einzutauchen in Lebenswelten, sie im langwierigen Zusammenleben mit Menschen persönlich zu erfahren, sie teilnehmend beobachtend aus sich selbst heraus erschließen zu versuchen, um dies anschließend via geschriebener (Re-)Konstruktionen ~ sogenannten Ethnographien ~ festzuhalten, und damit uns, nicht dort Gewesenen, ein kleines Gefühl dafür zu vermitteln, wie das Leben woanders, jenseits gewohnter Kontexte abläuft (wenn man es denn in Worte fassen müsste).
Beseelt von dieser Agenda beschäftigte sich das Ethnologon klassischerweise bevorzugt mit dem empirischen Erhellen des Lebens bei schriftlosen Gesellschaften in fernen Weltgegenden; mittlerweile hat es jedoch dazugelernt und erkannt, dass unbekannt Erforschenswertes nicht zwangsläufig mit Distanz zusammenhängt ~ Lebenswelten in Burschenschaftshäusern, an Theatern, in Investmentbanken oder von Obdachlosen, Straßenmusizierenden oder Politiker_innen können ebenso unbeleuchtet und damit erforschenswert sein wie indigenes Leben an den Oberläufen des Amazonas oder Handelsnetzwerke innerhalb eines polynesischen Inselarchipels. Immer mehr betrachtet es nun also auch Lebenswelten sozusagen vor der eigenen Haustüre als erkundenswert interessant.
Egal, ob in der Ferne oder Daheim, an einem Punkt lässt es nicht mit sich reden: mit seinem auf ‚teilnehmender Beobachtung‘ pochendem, emisch kalibrierten Herz beharrt dieses Wesen nämlich kompromisslos darauf, sich wie auch immer geeichte Lebenswelten erst von innen heraus, also aus der Perspektive der jeweiligen Menschen erschließen zu versuchen, um danach abstrahierend und theoretisch verallgemeinernde Töne anzuschlagen: °°to learn how to think about a situation together with one’s informants; research catergories develop with the research, not before it°° (Tsing 2015: ix).
In den Adern des Ethnologon fließt demnach quasi alles durchdringend belebende Kraft, ein radikal emisch gepolter Puls, und nur aus dieser emisch pulsierenden Vitalität heraus kann es dann zum Beispiel anarchistische, funktionalistische, strukturalistische, kritisch-selbstreflexive, Ästhetik-zentrierte, Feminismus-inspirierte, existenziell-anthropologische, postkoloniale, anwendungsorientierte, marxistische, praxeologische oder dicht-beschreibend interpretierende Bewegungen vollziehen. Unterschiedlichste ethnologische Strömungen und Denkschulen sind so gesehen verschiedene Bewegungen eines einzigen Wesens, welches jedoch aufhört zu existieren, wenn das emisch gepolte Herz zu lange vernachlässigt und nicht mehr mit entsprechenden Impulsen genährt oder fit-haltend trainiert wird. Solange hier jedoch ein emisch pulsierendes Herz teilnehmende Beobachtungen durch die Adern pumpt, lebt das Ethnologon ~ ganz egal, ob es nun seiner Potentialität entsprechend zugleich bei Crack-Dealenden in Harlem, bei Pilzsammler_innen in Oregon, auf AAA-Panels, den Trobriandinseln, im Amazonasbecken oder in oberpfälzischen Schreinereien aufquellt ~ interessant-vielschichtig fremde Lebenswelten gibt es schließlich überall. Um hier jedoch sofort ehrlich zu sein, ist schnell hinzuzufügen, dass ich (wie lange Zeit zuvor auch das Ethnologon) das Interessante darin sah, was fern und ‚exotisch‘ wirkt. Dass es überall interessant-erkundenswerte Lebenswelten gibt, wurde mir erst durch (m)ein Ethnologie-Studium bewusst (hier vor allem durch die obligatorische Lehrforschung im sechsten Semester). Davor, etwa während meiner Schreinerlehre nach dem Abitur, war dies noch völlig anders: Hier Zuhause, also in Deutschland, Ungarn oder Europa war mehr oder weniger immer schon alles klar und damit gähnend langweilig, erst woanders, in der Ferne wurde dann alles irgendwie spannend-interessant, da zog es mich hin: Dokus über mongolischen Kehlkopfgesang, westafrikanische Griots, Taxifahrer in Mumbai, Sufi-Schreine in Pakistan, Inuit-Iglus, Samuraischwert-Herstellung, das Leben von LKW-Fahrern auf Andenpässen, Nollywood, iranische Architektur, polynesische Tätowierungen, Baseball in den Straßen von Havanna oder über sibirische Schamanen wurden ehrfürchtig-staunend aufgesogen und beschäftigten mich tagelang, wenn es dagegen um niederbayrische Volksmusik, Hebammen in Kopenhagen, schwäbische Fachwerkhäuser, sizilianische Dorffeste, gotische Kathedralen, ungarische Hirten, Schottlands Clangesellschaften, Alpenhörner oder um baskische Tänze ging, wurde gelangweilt weitergezappt. Meine ursprüngliche Motivation für ein ethnologisch eingefärbtes Studium wäre demnach völlig zurecht als ziemlich exotistisch zu beschreiben. Im Laufe des Studiums wurde hier allerdings vieles geradegerückt, wofür ich auch sehr dankbar bin, da ich letztendlich dadurch geöffnet wurde für die Unfassbarkeit des gewohnten Alltags ~ und genau darum geht es in diesem:
Das Wuchern des Ethnolgons ist einerseits wissensvermittelnd theoretisch, andererseits wuchert es auch persönlichkeitsverändernd in das Leben hinein, sodass sich das Studium stark abstrahiert auf zwei miteinander verwobenen Ebenen abspielt: Auf einer theoretisch lernenden und auf einer persönlich verändernden. Im Hin- und Herspringen zwischen diesen beiden Ebenen soll nun das Ticken des Ethnologons in seiner ganzen Dimension (be-)greifbar gemacht werden. Indem universitär vermittelte theoretische Axiome als persönliche Aufforderungen erfahrbar gemacht werden sollen, wird versucht Lesenden das(Lebens-)Gefühl zu vermitteln, welches durch das Wuchern des Ethnologons in mir entstanden ist, da es in meinen Augen genau das ist, weshalb es lohnenswert ist, sich eben ethnologisch mit der Welt zu befassen und nicht anders.
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4°~:: Im antiken Griechenland wurde unter dem Leitsatz epimeleia heautou jedem Menschen die ‚Sorge um sich‘ empfohlen (vgl. Foucault [2007] 2015: 74). Im Sinne eines °°Erkenne dich selbst!°° (ebd.: 123) ist darunter ein selbsterkennender Weg hin zu einer idealen °°Lebensform°° zu verstehen (ebd.: 126). Nach Platon ist dabei grundlegend, dass hierfür eine große Portion des bereits Gewohnten entledigend abgeschüttelt wird, dementsprechend ist °°Verlernen (de-discedere) […] eine ganz wichtige Aufgabe im Rahmen […] [dieser] Selbstbildung°° (ebd.: 127). Auch im Zen-Buddhismus geht es darum, sich persönlich von den gesellschaftlichen das-macht-man-halt-so Wahrheiten zu befreien, um neue Wege einschlagen zu lernen: °°Gerade die Zerstörung ist notwendig, wenn eine neue Ordnung der Dinge im Sinne der Zen-Erfahrung entstehen soll°° (Suzuki [1937] 1990: 146).
Im Einklang mit den obigen Aufforderungen des epimeleia heautou und denen des Zen-Buddhismus war ein abschüttelndes Verlernen wohl auch die entscheidende, auf jeden Fall aber die inspirierendste Würze meiner letzten zehn stark ethnologisch eingefärbten Bachelorsemester: Umherwirbelnde Taifune, die hier bestehende Muster mal aufbrechen, mal einstampfen; neue theoretische Reize und ethnographische Beschreibungen, welche alt-eingesessene Denkschneisen, tief-prägende Argumentationspfade und vielbefahrene Wahrnehmungsfurchen planierend zuschütten, sodass neue Betrachtungswege möglich werden.
Noch ganz gut kann ich mich beispielsweise an eine ethnologische Einführungsvorlesung erinnern, in welcher das Thema ‚Symbolismus‘ abgehandelt wurde; zum ruhigen Verarbeiten der Gedanken aufwirbelnden Sätze, die in diesem Zusammenhang auf uns herabgeprasselt sind, musste ich mich damals nach der Stunde erstmal ins Tropenhaus der Universität Bayreuth setzen: Holztische zum Beispiel sind also erstmal als aneinander geschraubte oder miteinander verleimte Holzplatten, Bretter und Balken zu beschreiben. Nirgends auf dem Tisch steht, dass es ein Tisch ist ~ nur durch unsere Sinngebung liegt die Essenz dieser miteinander verbundenen Holzteile in ihrer Tischheit. Im Alltag auf einen Holztisch zeigend zu einem ‚Beschreiben Sie mir, was Sie sehen‘ auffordernd, ist es allerdings sehr unwahrscheinlich hier nicht rasch die Antwort ‚Ich sehe einen Tisch‘ zu erhalten ~ Warum eigentlich? Aufgrund unserer lebenslangen Sozialisation, durch unser Mitdasein innerhalb einer wie auch immer konditionierten Ganzheit, festigt sich in uns nämlich über alltägliche Interaktionen ein unbewusstes Reservoir an implizitem Wissen, welches uns reflexartig im Holztisch einen Holztisch erkennen lässt ~ ohne jedoch gleichzeitig zu sehen, dass es sich hier eigentlich nur um miteinander wie auch immer verbundenes Holz handelt, welches auch ganz anders wahrgenommen und genutzt werden kann. Das Ethnologon versucht eben genau an Punkten wie diesen die reflexartige Vorschnellheit normativer Folgerungen so gut es geht zu nullen, indem es dazu auffordert hier an sich arbeitend Anstrengungen zu unternehmen, um zu versuchen sich solcherlei normierende Reflexe abzutrainieren und sich über sie bewusst werdend zu lernen, sie dosiert den Umständen entsprechend einzusetzen (denn jenseits der Ethnologie erleichtern solcherlei Automatismen ja gehörig unser Alltagsleben. Das Verinnerlichen von solcherlei ethnologischen Aufforderungen bedeutet demnach einen ziemlich abenteuerlichen Spagat, bei welchem darauf zu achten ist, nicht vollständig gesellschaftsunfähig und einsam zu werden).
Auf die Tischplatte setzend können tischartig verbundene Holzhaufen also auch als Bänke benutzt werden, während man sich bei Regen oder zu viel Sonne, Schatten oder Trockenheit suchend auch unter sie verkriechen kann. Nachts eine Matratze, Isomatte oder ein Kissen ausbreitend lässt es sich auf Tischen aber auch gut schlafen! Potentiell ist mit einem Tisch also vieles anzustellen, dementsprechend ist darin auch sehr vieles zu sehen ~ und genau hier fängt Ethnologie an: °°Das Ergebnis ist die Anerkenntnis, daß ein Spaten ein Spaten und gleichzeitig kein Spaten ist°° (Suzuki 1990: 83). Ganz im Sinne dieses Zen-buddhistischen Leitsatzes lehrt auch das Ethnologon die Unumstößlichkeit von Bedeutungen zu überwinden, sie nicht mehr als in Stein gemeißelt natürlich anzusehen, sondern sich vom gewohnt althergebrachten emanzipierend zu befreien: Vergleichbar mit Zen-buddhistischen Ansätzen ist nämlich auch das Ethnologon davon überzeugt, dass wir aus der Gewohnheit heraus sozusagen °°Sklaven°° (ebd. 83) von alt-eingesessen stark normierenden Logiken und Bedeutungswelten sind, der Schlüssel für das Erreichen von neuen Betrachtungswinkeln liegt demnach darin, sich vom Gewohnten loszuketten, um über das Staunen und die Demut kultivierend in einem fragend-entdeckungsfreudigem Sein aufzugehen
Das Ethnologie Studium ging für mich also Hand in Hand mit dem Versuch, eigene Vorannahmen so gut es geht abwürgen zu lernen, damit der Blick frei wird dafür, zu erkennen was etwa Personen in einem Tisch sehen, die aus ihrem Alltag keine Tische kennen, denn dafür gilt es in demütiger Zurückgenommenheit das Mysterium ‚Tisch‘ wieder zuzulassen und über ein Mitleben, Beobachten, Fragen und Unterhalten die emischen Perspektiven dieser Personen zu rekonstruieren zu versuchen ~ um zu beschreiben wie Andere das wahrnehmen, was für mich (mysteriöser Weise) nur ein Tisch sein kann.
Sich nun, wie für Ethnolog_innen üblich, jenseits gewohnter Zusammenhänge aufzuhalten, also in Kontexten in denen nur noch sehr wenig so selbstredend ist wie ein Tisch, bedeutet jedoch, dass sich die Situation dreht: Nicht, dass es in der Fremde keinerlei Selbstverständlichkeiten mehr gäbe ~ sie gibt es sehr wohl. Im Gegensatz zu dem Gewohnten, können Selbstverständlichkeiten hier jedoch völlig anders geeicht sein. Dann geht es also nicht mehr darum, sich vom Tisch zu entfremden um herauszufinden was er noch bzw. eigentlich ist, sondern darum, hier mit fremden Selbstverständlichkeiten vertraut zu werden. Und da im Sinne des Ethnologons dabei emische und niemals eigene Blickwinkel im Vordergrund stehen sollen, wird ein loslösendes Befreien von mitgebrachten Vorstellungen, Logiken und Bedeutungswelten nun zum unerlässlichen Imperativ: Eintauchen in anders gepolte Lebenswelten, um auf fremde Selbstverständlichkeiten aus einer Offenheit heraus voller staunender Fragezeichen zu blicken (statt sich hier durch wertend-abtakelnde (Vor-)Urteile selbst zu blenden), und damit das Andere emisch, sprich aus sich selbst heraus, erschließen zu versuchen: Warum haben etwa viele Männer auf Bali eine große Leidenschaft für Hahnenkämpfe? Wie laufen solche Kämpfe ab? Wie und wann gewinnt ein Hahn? Wann kämpfen Hähne bis zum Tod, wann wird der Kampf vorzeitig abgebrochen? Was hat es mit den messerscharfen Sporen an den Füßen der Kampfhähne auf sich und warum sollen sie nur bei Neumonden oder Mondfinsternissen geschliffen werden? Wer sind die Schiedsrichter? Wie bindend ist ihr Schiedsspruch? Wie werden Streits geregelt? Gibt es Fouls und was sind Beispiele dafür? An welchen Äußerlichkeiten sind starke von schwachen Kampfhähnen zu unterscheiden? Wie hängt dies wiederum zusammen mit den Wettquoten, die mit den lebhaften Wetten um den Hahnenkampfring herum zusammenhängen? Wie sind die Dynamiken der Wettbewegungen um einen Kampf herum zu erklären? Was bedeuten die unterschiedlichen Handzeichen mit denen Wettende und Wetten-anbietende Zuschauer kommunizieren? Wie entstehen während einem solchen Kampf die Wettquoten ~ wann und weshalb ändern sie sich? Wie werden Quoten angezeigt? Was hat es mit den zu beobachtenden Wettallianzen auf sich? Wie kommen sie zustande? Warum wettet ein Mann °°im Grunde nie gegen einen Hahn, der einem Mitglied seiner eigenen Verwandtschaftsgruppe gehört°° (Geertz: [1973] 1994: 237)? Und was passiert wenn er gegen solcherlei Erwartungen dann doch verstößt? Wie bindend ist dieses Ideal also? Gibt es in Fällen solch illoyalen Wettens familiäre Sanktionen? Wie hängen Erfolg beim Hahnenkampf und soziales Prestige in Dörfern zusammen? Was sind die dorfpolitischen Dimensionen eines Hahnenkampfs? Weshalb spielen örtliche °°Statusrivalitäten°° (ebd.: 237) bei Hahnenkämpfen eine Rolle? ~ und in wie fern ändern sich diese, wenn °°ein fremder Hahn°° aus einem anderen Dorf °°gegen einen Hahn aus dem eigenen Dorf kämpft°°? (ebd.: 238) Gibt es Hierarchien unter den Hahnenkampfteilnehmern? Worauf basieren sie? Was versteht man unter einem ‚tiefen‘ Kampf ~ und wie wird bei Hahnenkämpfen betrogen ~ was passiert beim Auffliegen dabei?
Wie das Beispiel balinesischer Hahnenkämpfe exemplarisch verdeutlicht, schäumen bei einem ethnologischen Eintauchen in alltäglichste Phänomene ungeahnt viele ineinander vielschichtig verwobene Dimensionen auf, welche zuerst zu erschließen sind, um Phänomene wie etwa balinesische Hahnenkämpfe aus emischen Perspektiven heraus destilliert annährend in ihrer lokalen Selbstverständlichkeit ethnographisch beschreiben zu können. Sich das Was, Warum, Weshalb, Wie oder Wann solch fremder Selbstverständlichkeiten (die wie gesagt auch in bayrischen Bierzelten oder an Bushaltestellen in Berlin lauern) via teilnehmender Beobachtungen erschließen zu versuchen, dies ist die Essenz des emisch pochenden Ethnologon-Herzens.
In einem seiner zahlreichen Bücher beschreibt Galsan Tschinag die Karawane °°seines in den sechziger Jahren zwangsumgesiedelten Volkes zurück zu den Weideflächen und Jagdgebieten im Hohen Altai°°, wie sie sich durch die Steppen, Berge und Wüsten der Mongolei zieht (Tschinag (1997) 2003: Klappentext). Mit dieser Karawane zieht auch ein deutsches Filmteam, dessen Arbeitsweise von Tschinag wie folgt zusammengefasst wird: °°Das Team ist mit bestimmten Vorstellungen gekommen, und die Arbeit besteht nun in der Hauptsache daraus, dass Vorgedachte hier bestätigt zu finden, die Planaufgabe also zu erfüllen°° (ebd.:153) ~ und genau dem entgegengesetzt tickt das Ethnologon: Teilnehmende Beobachtung als Methode und Forderung, sich ins Lokale fallenzulassen, das Eigene loszulassen, und dem Anderen damit aus sich selbst heraus eine Chance zu geben und es nicht vorschnell im Eigenen zu ersticken.
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Indem dargestellt wurde, wie das Ethnologon tickt, wie und was unter seiner Emischheit zu verstehen ist, wurde bereits deutlich, dass sein Wuchern im Rahmen eines Ethnologiestudiums jenseits bloßen Hortens von theoretischem Wissen vor allem mit persönlichkeitsverändernden Aufforderungen einhergeht. Da dies meines Erachtens auch die eigentlich berichtenswerte Würze eines Ethnologie-Studiums darstellt, soll nun genau darauf weiter detailliert eingegangen werden. Was nun folgt ist dementsprechend ein persönlich gehaltener Rückblick über Höhen und Tiefen eines zehn semestrigen Ethnologie-Studiums, um so einen kleinen Einblick darüber zu gewähren, wie aufwühlend und nachhallend das Ethnologon bereits im Kontext einer stark ethnologisch eingefärbten Bachelorstudienzeit im Leben wuchern kann. Ziel ist, das durchdringende Wuchern des Ethnologons (so gut es geht) über ein Lebensgefühl zu beschreiben, um damit das titelgebende ‚Warum‘ des Blogs nicht ausschließlich abstrakt-theoretisch zu beantworten. Dabei würde nämlich genau das Ergreifende wegfallen, was das Ethnologiestudium zu einem schwindelerregenden, aufwirbelnden und enorm bereichernden Lebensabschnitt macht ~ kurz, zu einer tiefgreifenden Erfahrung, zu einem Erlebnis, in dessen Rahmen man sehr viele interessante Menschen trifft. …Und was macht man mal damit? Einen Master in Ethnologie dranhängen.
Lesenden, die nun nicht in diese persönlichen, vielleicht auch etwas unstrukturierten Beschreibungen eintauchen möchten, sei an dieser Stelle gesagt, dass sie jetzt großzügig hinunterscrollen können bis zu dem Absatz, welchem ein {8°~::} vorangestellt ist (und von dort aus weiterlesend ist es auch nicht mehr weit bis zum Schluss, dieser ist bei {12°~::}).
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5°~:: Zweierlei wurde mir quasi von Beginn an ziemlich regelmäßig und konsequent durch die ethnologisch gepolte Auseinandersetzung mit der Welt vorgeführt: Erstens, wie sehr ich unbewusst dazu neige, durch meine eigene Normbrille hindurch deutend und urteilend zu sehen (und wie schwierig es ist, sich hier gegenteilige Reflexe anzuerziehen), zweitens, wie sehr ich damit dann auch noch oft und grandios daneben liege. Rasch lernte ich dementsprechend, dass ‚logische Kohärenz‘ nicht der einzige Maßstab für die Richtigkeit von Folgerungen und Interpretationen ist, da Beschreibungen trotz einleuchtendster logischer Stimmigkeiten noch immer falsch (im Sinne von ethnozentrisch) sein können, zum Beispiel wenn angenommene Kausalitäten zu sehr auf eigenen Annahmen basieren. Die Herausforderung ist hier also, zuerst anders geeichte Deutungs- und Urteilsparameter nachzuvollziehen, um sich erst anschließend aus ihnen heraus Logiken herleiten zu versuchen. Kurz, es geht darum, den Kontext erstmal zuzulassen, für diesen gilt es ein Gespür zu bekommen, dieser ist zu beschreiben, um anschließend aus Kontext innewohnenden Logiken heraus Folgerungsversuche anzupeilen.
‚Sich erstmal auf den Zusammenhang in staunender Offenheit einlassen, dann versuchen zu reden!‘ ~ Das Ethnologiestudium ist ein hartnäckig wiederkehrendes Hinunterstoßen von einer hohen, vermeintlich alles überblickenden und (ver-)urteilend allwissenden Arroganz-Kanzel, mitten hinein in unterschiedlichste, erstmal nachzuvollziehende Welten.
Allerdings geht diese einher mit Lektionen, die persönlich sehr aufwühlend harte Prozesse lostreten. Zumindest war dies bei mir der Fall und mein Ethnologie Studium zur Welle mit einer ziemlich schmerzhaft desillusionierenden Talsohle machte. Rückblickend waren es nicht so sehr Prüfungen, Hausarbeiten und irgendwelche Abgabefristen, die mich umtrieben, sondern die Zersplitterung eines Weltbildes und das Aufstehen nach diesem Hinfallen.
Wie etwa bei einer Linse mit zwei Brennpunkten geht dieser emisch blinzelnde Blick des Ethnologons im Sinne einer °°bifocality°° (Fischer 1986: 199) nämlich auch damit einher, dass dieses Öffnen fürs Andere abfärbt auf das Gewohnte. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit unterschiedlichst gepolten Lebenswelten lehrte mich, dass selbst die grundlegendsten Selbstverständlichkeiten des Eigenen global gesehen eigentlich gar keine sind: Zusammenlebensweisen, Elternschaft, Geschlechterrollen, gesellschaftliche Ideale, Vorlieben, Werte, Eltern-Kind-Beziehungen oder religiöse Überzeugungen können auf der Welt zum Beispiel so unterschiedlich geeicht sein, dass (für uns) selbstredende Grundpfeiler wie ‚Monogamie‘, ‚Familie‘, ‚Schaffe-Schaffe-Häusle-Baue‘, ‚Liebe‘, ‚Natur‘ oder ‚Geld‘ in ihrer vermeintlich universalen Selbstverständlichkeit beinahe zu kurios willkürlichen Konzepten zerbröseln (oder verglichen mit dem Gewohnten völlig andere Bedeutungen annehmen können).
(Vermeintlich) natürlichste Grundpfeiler wie etwa das, was wir uns unter einem ‚Individuum‘ oder einer ‚Person‘ vorstellen, können nicht als Kulturen übergreifende gemeinsame Nenner vorausgesetzt werden: Wie etwa unsere westliche Gesetzgebung zeigt, gehen wir davon aus, dass jeder Mensch einen Art individuellen Kern hat, ein Kontext unabhängiges Selbst, dass er/sie/es eine sogenannte Person ist. Auf dieser Grundlage kann dann auch plausibel etwa von ‚persönlichem Besitz‘ gesprochen werden oder von ‚Persönlichkeitsrechten‘, die zugestanden aber auch wieder entzogen werden können. Die Ethnologin Marylin Strathern wendet dagegen ein, dass Menschen in Melanesien hier von einem radikal abweichenden Menschenbild ausgehen, welches sie unter dem Konzept ‚partible/multiple Person‘ zu fassen versucht: Für uns hängt das Menschsein mit einer einzigartig machenden Seele, Geist oder mit einem wie auch immer zu beschreibenden einzigartig machendem Persönlichkeitskern zusammen ~ Mensch = Person. In Melanesien dagegen wird laut Strathern die ‚Identität‘, das indentitätsstiftende Selbst eines Menschen jedoch zu etwas Situativem; jenseits von Situationen keinerlei grundlegende, individualisierende, situationsunabhängige Persönlichkeit, keine innere Essenz; ich bin nicht eine Person, sondern immer eine andere Person ~ Mensch = Personen ~ °° People have all sorts of identities°° (Graeber 2001: 39). °°Melanesians, according to Strathern, either do not recognize such a unique core, or if they do, do not attach much importance to it. Therefore they assume that we are, before we are anything else, what we are perceived to be by others°° (ebd.). Ein solches Menschenbild macht es dann zum Beispiel schwierig, von persönlichen Besitztum zu sprechen, wenn es keine situationsunabhängigen Individuen gibt ~ °°they do not see objects as having been produced by individuals. They see them as the outcome of relationships°° (ebd.).
Über ethnologische Betrachtungsversuche unterschiedlichster Lebenswelten verschwimmen also eigene Natürlichkeiten (etwa in der Fülle von Weltsichten) zu Ausnahmen und Kuriositäten. Bei mir ging dies so weit, dass sie plötzlich fremdartig wurden ~ ‚komische Bräuche, Lebensweisen, Ansichten und Traditionen pflegen wir da eigentlich‘, und diese Verfremdung des Eigenen mündete in einer lähmenden persönlichen Krise: Das Eigene verkümmerte. Was für mich bis dahin die Wahrheiten gepachtet und vertraute Welt war, wurde in der Fülle unterschiedlichster Zusammenlebensweisen zu einem Potential unter vielen möglichen ~ und dies schlug damals in mein Leben ein, wie Steine in Fensterscheiben: Alt-eingesessene Wahrheiten zersplitterten völlig und der nun leere Fensterrahmen wurde durch hartnäckig aufwühlende Fragen ersetzt: Woran kann ich eigentlich noch glauben? Was ist im Licht der überwältigenden Fülle an gesellschaftlich-kulturellen Wahrheiten eigentlich noch ‚die Wahrheit‘, auf welche ich mich selbst guten Gewissens stützen kann? ‚Einfach nur ganz fest an die Wissenschaft als neutrale Wahrheitsinstanz klammern‘ ist man hier geneigt zu antworten, aber auch die Vorstellung von ‚Neutralität‘ zerfließt durch das aufrüttelnde Ethnologon zu einem kuriosen kulturellen Ideal, sodass ich selbst den vermeintlichen Ausweg, die wissenschaftlich neutrale Erkenntnis als eine für alle Menschen universal gültige Wahrheit, durch das wuchernde Ethnologon mit Trümmern zugeschüttet vorfand: Auch vermeintlich wertfreie wissenschaftliche Wahrheiten sind schon immer implizit durchtränkt von unbewusst normativen Vorannahmen; in ihnen schlummert also auch schon Kultur ~ unmöglich, dass dies nicht so ist ~ alleine deshalb, weil wissenschaftliche Erkenntnisse für gewöhnlich in verbale Sprache gegossen wird. Da jedoch °°niemand eine Sprache [kennt], in der er unabhängig von der Sprache über das Gegebene sprechen könnte°°, bietet uns °°[j]ede Beschreibung der Sache […] nichts anderes als eine Gegebenheit, die im Verhältnis zu der benutzten Sprache steht. Die Sache flieht [somit] auf der unendlichen Asymptote des Gesagten°° (Serres (1985) 1993:).
Neutrale sozusagen kulturfrei-universalgültige Wahrheiten kann es per Definition also gar nicht geben, denn sobald wir Bestimmtes verbal Ausdrücken (und sei es nur als Frage formuliert) setzen wir damit bereits etwas in Verhältnis zu Wörtern und Begrifflichkeiten, erzeugen somit stets schon einen Bezug zu spezifisch kulturell eingefärbten Bedeutungswelten: Die wirklich ‚richtige Wahrheit‘ im Sinne eines allgemeingültigen neutral von-der-Welt-losgelösten Betrachtungspostens ist somit verwelkt durch die Sensibilisierung für in-der-Welt-Positionalitäten, aus welchen heraus bereits gesprochen wird, sobald Wörter in den Mund genommen bzw. zu Blatt gebracht werden (die Sensibilisierung dafür, dass Forschende schon immer Teil vom Forschungsfeld selbst sind, und es damit auch mitbeeinflussen ~ dass allein schon die Tatsache des Beobachtens den untersuchten Kontext verändert ~ solcherlei Einwände verstärkten zu dieser Zeit nur noch die Lawine der
einstürzenden Wahrheiten, was ein darunter Hervorkriechen nicht vereinfachte).
Nicht nur meine persönliche Krise, sondern auch eine fachinterne Krise speist sich jedoch aus solcherlei Einsichten: Bereits um die 1980er und 90er Jahre herum vollzog das Ethnologon diese selbstkritisch reflektierenden Bewegungen (Stichwort ‚Writing Culture‘), wobei ein lange schon implizit diffus gärendes Unbehagen innerhalb der Ethnologie als Erkenntnis über die Konstruiertheit ethnographischer Beschreibungen (Ende der 80er, beginnend der 90er Jahre) explizit ausgeschwitzt wurde ~ was sich damals etwas überspitzt formuliert als paralysierender Angstschweiß in der vielzitierten ‚Krise der Ethnologie‘ niederschlug, und in der inhaltlichen Konfrontation mit diesen einschneidend fachinternen Debatten wurde zwangsläufig auch meine persönliche Krise nicht kleiner.
Im Ethnologon ließ das Aufrappeln aus diesem traumatisierenden Krisental in meinen Augen eine wohltuende Bescheidenheit heranreifen, sodass es eigene Gültigkeits- und Wahrheitsansprüche nun demütiger formulieren kann: Herausdestilliert aus teilnehmenden Beobachtungen gelten ethnographische Beschreibungen gemäß °°partial truths°° (Clifford 1986: 7) nicht mehr als letzte kultur-übergreifende Wahrheiten im Sinne eines von allen Menschen auf der Welt abzunickenden letzten Amens in der Kirche, sondern als Darstellungen, die an ein spezifisches (in unserem Fall westlich gepoltes) Publikum adressiert sind. Als solche sind sie letztendlich verbale, erfahrungsbasiert emisch-gepolte Annäherungsversuche an Lebenswelten, um °°das Gefühl dafür [zu] erweitern, wie das Leben°° jenseits gewohnter Kontexte °°ablaufen kann°° (Geertz [1988] 1990: 135; eigene Hervorhebung). Es geht also nichtmehr darum triumphierend ewige und für alle universalgültige letzte Wahrheiten wie Trophäen zu präsentieren ~ damit gilt es sich zufrieden zu geben (und auch meine persönliche Krisenbewältigung peilte bald derartige Richtungen an).
6°~:: All diese neuartigen Lektionen ~ sprich die prinzipielle Formfreiheit menschlichen Lebens, eine bifokal sichtbar werdende Fremdartigkeit des Eigenen, sowie, gekoppelt an eine fundamentale Wahrheits- bzw. Wissenschaftskritik, das Bewusstsein für Positionalitäten ~ all dies erschütterte meine damalige Weltsicht allerdings gründlich, und nicht besonders behutsam, sondern ziemlich plötzlich und nachhallend wie in kurzen Abständen einschlagende Meteorite, da ich auf all dies nicht vorbereitet war: Aus einer Schreinerlehre kommend, bewegten mich zwar vielerlei Themen und Fragen, aber solche faustdicken epistemologischen Dilemmata mit denen ich mich nun konfrontiert sah, hatte ich mir einfach nicht erträumen können. Dementsprechend hatte ich auch lange Zeit größte Mühe alltäglichste Sachen ernst zu nehmen und mich wie gewohnt in sie hineinzusteigern, was mich damals auch von vielen Menschen isolierte, weil ich zum Beispiel ihre Sorgen und Ängste nicht nachvollziehen und ernst nehmen konnte. Hermann Hesses Siddartha lesend, kam ich einmal an die Passage, in welcher der suchende Siddhartha als Händler arbeitend sich darüber bewusst wird, dass er unfähig ist mit derselben Leidenschaft zu feilschen und zu handeln wie seine Kollegen, sodass °°die Leidenschaft, mit welcher alle Menschen dies Spiel betrieben, […] seine Gedanken ebenso sehr [beschäftigten], wie einst die Götter und Brahmanen°° (Hesse [1922] 1991: 67). Gut kann ich mich daran erinnern wie mir die Augen feucht wurden, als ich damals diese Passage las, weil dabei etwas sehr tief in mir berührt wurde: Mit den geschäftig tummelnden menschlichen Bestrebtheiten um mich herum konnte auch ich irgendwie sehr wenig anfangen ~ was machen die da alle eigentlich? Was mache ich eigentlich??? ~ Ist das nicht alles eine riesiger Wahnsinn?
In mir wucherte das Ethnologon damals vor allem über solche nicht loslassend-aufwühlenden Fragen. Welch eine Ironie: Ursprünglich an die Uni gekommen, um aus einem naiven Realismus heraus die Wahrheit ethnologisch zu entdecken, war dies nun mit solch radikalen Umwälzungen verbunden, dass dabei meine fragend glühenden, wahrheitssuchenden Scheinwerfer im Spiegel des Fremden auf mich selbst zurückfielen, sodass sie als stark-dekonstruierende Strahlung nun das Komische im Eigenen kraftvoll beleuchteten bis es schließlich zu einem kleinlich-befremdlichen Spiel zerfiel.
Dort, wo vorher noch eine Sicher- und Geborgenheit bietende Insel voller robuster Wahrheiten stand, zu welcher ich jederzeit zurückschwimmen konnte, dort trieb nun plötzlich nur noch ein kleines, sehr wenig Geborgenheit ausstrahlendes Floß auf der Wasseroberfläche. Es hat allerdings gedauert bis ich verstehen konnte, dass das Ethnologon hier vielleicht gar nicht in Richtung anderer Inseln oder Felsen zeigen will, um erneut ein Klammern zu gewähren, sondern eher dazu auffordert, das Archipel in seiner ganzen Fülle, in seiner überwältigenden, aber auch beängstigenden Vielfalt entdeckend auszukosten. Hier etwa das Navigieren, Wolken- oder Vogelfluglesen, das Schwimmen, Tauchen und Floßfahren zu verfeinern, um nicht wieder die Kunst des Klammerns, vielmehr die des spontanen Reagierens und Loslassens zu kultivieren: Im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten, das Zusammenspiel, den Tanz mit der ständig sich wandelnden Welt nicht zu scheuen, sich auf das Treibenlassen genießend einzulassen und stets neugierig zu sein dafür, wo es einen als nächstes hin verschlägt (leichter gesagt als getan).
Ohne universalgültige, orientierungswürdige Sicherheiten bzw. ohne festen Halt in unumstößliche Wahrheiten wurde mein Leben also definitiv neu kalibriert und diese Entwicklung ist nun zum Glück wieder dabei, zu einem neuen positiveren Lebensgefühl zu gerinnen.
7°~:: Eckpfeiler dieses Lebensgefühls ist definitiv ein kopfschüttelndes Staunen über sich selbst, was von einem Menschenbild gespeist wird, welches ermöglicht, sich selbst auf eine gewisse Art nicht allzu ernst zu nehmen. Und dies ist unheimlich befreiend ~ warum und in wie fern? Um hier überhaupt eine Chance zu haben, dies nachvollziehbar zu erläutern, muss nun ein womöglich etwas holprig-wild ausschweifender Umweg (welcher, mit der Bitte um Nachsicht, entsprechend seiner unausgereiften Holprigkeit (vor allem zu Beginn) eher den Namen ‚Eselsbrücke‘, statt den einer ‚Theorie‘ verdient) eingeschlagen werden. Eine stärkere Komprimierung (ich hab es probiert) wäre hier nämlich eher verwirrend statt erhellend ~ und wen das Ganze nicht so sehr interessiert bzw. wer einfach nun endlich wissen möchte, worauf der Text eigentlich hinausläuft, kann ab hier auch großzügig weiterscrollen bis zu {8°~::}.
Grundlegend für diese befreiende Sichtweise auf mich selbst war und ist es, mich im Menschsein nicht als logisch-denkende, leuchtende Krönung der Schöpfung anzusehen, sondern als ziemlich eigenartiges, seltsam-widersprüchlich umherschlenderndes, ja als ziemlich schäbiges Wesen zu akzeptieren ~ in folgendem Sinne:
Unheimlich wie unselbstverständlich aus der Ferne betrachtet eigentlich kulturell-gesellschaftliche Natürlichkeiten sind. Egal, ob auf den Trobriandinseln, in Schwäbisch Hall, oder auf dem tibetischen Hochplateau; egal, ob Evolutionismus, Christentum, Buddhismus oder lokale indigene Weltsichten ~ wir Menschen leben (zum Beispiel, wenn wir von einem christlichen Tod und nicht von buddhistischen Wiedergeburtszyklen ausgehen) zum Teil in völlig verschiedenen Welten, gehen jedoch spannenderweise immer davon aus, dass die eigene Welt die Wahrheiten pachtende einzig Wahre sein kann (was oft zu spannenden Synkretismen führen kann). Überall auf der Welt schreiten wir Menschen somit alltäglich durch unsere kulturell voneinander stark unterscheidenden soziokosmischen Welten, welche berstend voll sind mit Selbstverständlichkeiten und letzten Wahrheiten; universaler gemeinsamer Nenner all dieser selbstredenden Soziokosmen ist dabei jedoch interessanterweise, dass sie in den Augen derjenigen Menschen, die mit diesen Welten nicht vertraut sind, einfach nur seltsam-kurios erscheinen ~ keine Spur mehr von der Selbstverständlichkeit. Überspitzt formuliert leben wir Menschen also überall eingenistet in unterschiedlichst geeichten Kohärenzblasen im Sinne von verschiedenen, auf sich selbst verweisenden das-macht-man-halt-so-Tautologien. Worin wurzelt dann aber die Menschen mitreisende Kraft dieser Universen? Was ist somit die Essenz menschlicher Natürlichkeiten? Also: Was ist die Substanz der Wahrheiten, welche unseren willkürlich geformten Natürlichkeiten den Anstrich letzter unumstößlicher Wahrheiten geben? Worin wurzeln mitreisende Kohärenzen, aus denen sich Wahrheiten speisen? Was bestimmt bzw. lenkt dann eigentlich unser Leben, wenn es eben nicht die unumstößliche und universalgültige Wahrheit unserer jeweiligen Wahrheiten sind? Und wenn dem so ist, wonach Leben wir dann eigentlich?
°°Man könnte gar nicht immer sagen, was es ist, das den Menschen einsperrt, ummauert, zu begraben scheint, aber doch spürt man irgendwelche Gitter, Schranken, Mauern. Ist das alles Einbildung?°° (Van Gogh 1990: 27)
Gut kann ich mich noch daran erinnern, dass ich, um meine Eltern nicht unnötigerweise mit weiteren schlechten Noten noch mehr zu verärgern, in der Schule regelmäßig während Biologie-Klassenarbeiten ‚die Rationalität‘ als das entscheidende Merkmal des Menschseins widerkauen musste; was passiert jedoch mit dieser vielgerühmten ‚Rationalität des Menschen‘ ~ präziser gefragt: Wie tief reicht diese ‚Rationalität des Menschen‘ eigentlich, wenn man doch sieht, dass Existenzen formende Kontexte und gelebte Wahrheiten aus anderen Blickwinkeln betrachtet völlig irrational sein können? Ist unsere vielbesungene menschliche Rationalität somit eher eine emotional gepolte Tautologität? Sind wir eigentlich sehr leicht und ziemlich schutzlos Tautologien ausgeliefert, sobald diese nur kraftvoll genug in unser Leben preschen, um uns mitzureisen? Adieu Mensch = Rationalität ~ eher tanzende Blätter im Wind? Wer oder was für Wesen sind wir eigentlich?
Für mich persönlich hoch spannend, dass diese mitreisende Essenz von zirkulär auf sich selbst verweisenden Tautologien besonders greifbar wird in Situationen mitten aus dem alltäglichen Dahinleben, beispielsweise, wenn Menschen sich unerbittlich streiten über etwas, das im Nachhinein als so unbedeutsam erscheint, dass beide Streitparteien peinlich-ungläubig ihre (Dick-)Köpfe schütteln, wenn sie an das Streitthema zurückdenken: Im Strudel der Situation waren beide jedoch gefangen in einem emotional geladenen, tautologisch sich immer wieder auf sich selbst beziehenden Kohärenzstrudel, aus welchem sie ~ gefangen im Sog der Situation ~ einfach nicht ausbrechen konnten. Erst mit dem Abkühlen der Diskussionshitze, also aus einem ruhiger gepolten Zustand heraus, wundern sie sich dann möglicherweise über den (in diesem Fall) verheerend selbsterhaltenden, dynamisch mitreisenden Tautologie-Strudel und schauen ungläubig zurück: als ob es in der Diskussion vorhin um die ganze Welt gegangen wäre.
Solcherlei als-ob Szenarien werden vom Ethnologen David Graeber in seinem Artikel It is Value that brings Universes into Being (2013) emporgehoben zur Essenz des Menschseins: In unserer Bestrebtheit Träume, Verheißungen und Verlockungen zu verwirklichen, sind wir im Sinne einer °°kind of as-if quality°° (Graeber 2013: 230) nämlich von der Anziehungskraft ergriffen, welche von verlockenden Versprechungen ausgeht. Wir handeln also aus einer Mitgerissenheit heraus, sind demnach Verfallen an bestimmte kollektive Wertvorstellungen ‚als-ob‘ diese die letzten Wahrheiten wären, weil wir uns davon Gutes im Leben erhoffen (in Graebers Text selber fallen Wörter wie ‚Mitgerissenheit‘, ‚Dynamik‘ oder ‚Verfallenheit‘ nicht, sondern basieren auf meiner möglicherweise eigenwilligen Lesart.)
Graeber geht hier mit der Macht der Tautologie also offensiv um, will heißen, er versucht gar nicht erst den Menschen wieder hinzubiegen als völlig selbstbewussten Rationalitätsknäuel, welcher den Biologieklausur-Antworten zufolge eigentlich vom Kompass der Rationalität geleitet, stets wohlbedacht von äußeren Umständen unabhängig handeln müsste. Dies weiter veranschaulichend zieht Graeber nun Parallelen zur Hingabe, zur Selbstvergessenheit und Begeisterung während dem Spielen eines Spiels oder zur empathisch-emotionalen Versunkenheit während Theateraufführungen: Die Wirkmacht des ‚als-ob‘ im Sinne einer mitreisenden Dynamik macht aus unserer vielgerühmten Rationalität etwas ziemlich labil launisch-wechselhaftes ~ °°If one is enjoying the bedtime story, one doesn’t care that penguins can’t really talk°° (Graeber 2013: 230) ~ was als Fazit auch aus dem ‚Stanford Prison Experiment‘ abzuleiten ist, das von Graeber weiter angeführt wird, um zu veranschaulichen wie schnell sich tatsächlich fatal kollektiv mitreißende als-ob-Dynamiken bei uns Menschen herausbilden können: Bei diesem Experiment wurden Personen für zwei Wochen ~ als Wärter_innen und Sträflinge unterteilt ~ in einem künstlich gestellten Gefängnisszenario zusammengesperrt und sich selbst überlassen. Wärter_innen hatten dabei die absolute Macht über die Gefangenen ~ °°the results°° jedoch
°°were catastrophic: some prisoners conceived plans to escape, the guards soon began designing sadistic rituals and psychologically abusing those under their command. After six days, the experiment had to be called off for fear someone would be seriously hurt.°° (ebd.: 230)
Obwohl die Teilnehmenden also von vorneherein ganz klar um die Künstlichkeit des Szenarios wussten, konnte ~ ‚als-ob‘ sie dies nun nicht wüssten bzw. es wieder vergessen wurde oder dies einfach unbedeutend wäre ~ eine gefährlich-aufgeladene Dynamik aufkommen, weshalb das Experiment in Erwartung sadistischer Misshandlungen vorzeitig beendet werden musste.
Was sagen nun solcherlei Einsichten über uns Menschen? Auf den ersten Blick vielleicht nicht viel Gutes, vor allem dann nicht, wenn man vor sich selbst das Idealbild eines reflektiert denkenden und vernunftgesteuert handelnden rationalen Wesens hochhält. Nun kann es hier aber auch unheimlich befreien, das eigene Sein als Mensch eben nicht ausschließlich über eine Logik gesteuerte °°vernünftige Seele°° (Descartes [1637]1961: 55) zu definieren, sondern sich selbst auch als tanzendes Blatt in mitreißenden Winden annehmen zu lernen; zumindest bei mir ist und war dies der Fall, weil ich dann weniger hart mit mir selbst (und meinen Mitmenschen) ins Gericht gehe. Fallen also Parameter wie Rationalität und vernuftgesteuerte Reflektiertheit als identitätsstiftend-schmeichelnde Alleinstellungsmerkmale weg, wird plötzlich nicht mehr besonders verwunderlich, dass für uns Menschen so viel unterschiedliches als wahr erscheinen kann, weshalb es dann auch kein Widerspruch mehr ist, wenn wir eben nicht nach letzten universalgültigen Wahrheiten leben, sondern ’nur‘ nach dem, woran wir halt aus einer Mitgerissenheit heraus glauben, als-ob es die Wahrheit wäre. Dementsprechend ist es auch halb so schwer die eigene Mitgerissenheit als Mensch zu akzeptieren, wurde erstmal mit der kartesianischen Maxime eines cogito, ergo sum ~ °°ich denke, also bin ich°° (ebd.: 31) ~ grundlegend gebrochen. Zudem lebt es sich so einfach entspannter, erstens, da man nicht mehr gezwungen ist für all seine Handlungen und Regungen krampfhaft logisch erklärende Antworten zu finden, zweitens wird es so auch viel einfacher zu verzeihen, da alles Schlechte eben nicht sofort auf mutwillig vernunftgesteuertes Kalkül rückführbar wird, sondern auf allzu menschliche Unzulänglichkeiten und Defizite, mit welchen wir in meinen Augen alle ziemlich reich beschenkt sind.
Eine kleine Anmerkung, um hier nicht Tür und Tor zu öffnen für alles-relativierende Lesarten: Es wird nicht dafür plädiert, sich als Mensch nicht mehr für seine Taten verantwortlich zu fühlen. Ausgehend vom oben Geschriebenen hier bitte nicht ein Extremszenario ausmalen, um sich dann über eine nicht gemeinte Perversion zu entrüsten, sondern die obigen Gedankengänge nuanciert, als einen in ausbalancierten Maßen erteilten Ratschlag verstehen: Zweifellos, im Extrem, gemäß einer Ausschließlichkeit, ist vieles verwerflich, auch das, was oben steht ~ darum geht es aber nicht. Vorgeschlagen wird eine wohl dosierte, sprachlich schwer auszudrückende und situativ immer wieder anzupassende Portion von ‚Über sich selbst Staunen und Lachen‘, um auf diese Weise weniger krampfhaft und unerbittlich (miteinander) Sein zu können. Keinesfalls geht es um das Kultivieren von bequemen Scheuklappen oder um das Ausblenden von Ungerechtigkeiten (die man möglicherweise selbst (bewusst oder unbewusst) reproduziert bzw. durch die eigene Lebensführung immer wieder anfeuert). Vielmehr geht das darum, sich bewusst zu werden über den schmalen Grat zwischen kritischer Reflektiertheit und zerstörerischer Selbstzerfleischung, zwischen humorvoll-verzeihender Selbstironie und Ignoranz/ Gleichgültigkeit. Bei diesen hölzernen Benennungsversuchen einer auszulotenden feinen Schwelle möchte ich es nun belassen, mit der Hoffnung auf Lesende, die sich hier nicht zu sehr in einzelne, aneinander gereihte Wörter hinein verkeilen, sondern sie im Sinne des Geistes lesen, den ich versucht habe darzustellen ~ nämlich als persönlichen Ansatz herausführend aus einem zügellos wütendem Hinterfragungstornado, welcher es beinahe unmöglich macht(e) konstruktiver, ein für Mitmenschen erträglicher Teil des Alltags zu sein.
8°~:: Ziel der vorangegangenen Wanderung war es ~ um (nach diesem vielleicht etwas wilden Ausritt) hier wieder in den Fluss des Textes einzuscheren ~ das entfremdende Wuchern des Ethnologons nicht nur zu behaupten, sondern es auch darzustellen, es nachvollziehbar zu machen, damit Lesende auf diesem Weg ein Gefühl dafür bekommen, wieviel doch tatsächlich ins Wanken geraten kann, wenn das Ethnologon mit seinem emsich aufwühlenden Pflug in das Leben hineinwuchert: Indem das Eigene wie erlebt durch die Bifokaliltät des ethnologischen Blicks in seiner natürlichen Selbstverständlichkeit zerfällt, wurde das bis dato Gewohnte dabei genauso verwunderlich wie zuvor das Fremde ~ hier wie dort, nun beides verwunderlich. In diesem Fremd-Eigen übergreifenden Schlaglicht erstrahlt der raffiniert verkleidete Wahnsinn des Menschseins, alles wird irgendwie seltsam, schwer in Worte fassbar, aber die Neugier anfeuernd ~ Wie kann das alles trotzdem sein? Wie funktioniert Menschsein? Was ist das Leben?
Durch die Spalten einer luftig geflochtenen Wand aus Schilfrohr strahlt die Verwunderlichkeit der Welt also diffus-vieldeutig und schwer greifbar in das Leben hinein. Ein nie gesehen spannendes Licht, welches die Wand in unterschiedlichsten Farben zum Glitzern bringt wie ein dichtes Blätterdach, durch welches die Mittagssonne hindurchfunkelt; geronnen zu verwunderlichen Linien und Mustern auf dem großen, über dem Bett gespannten Moskitonetz durchflutet es den Raum ~ Warum habe ich all dies bisher nicht gesehen? Wo kommt das Licht her? Was strahlt da eigentlich genau? Kurz, die ursprüngliche Krise schlägt um in ein neugieriges Staunen, ein Staunen das zupackt, mitreist und den Blick frei macht für die Schönheit des Lebens:
°°Wenn eine Randbedingung alle übrigen so sehr übertrifft, daß diese anderen vernachlässigt werden können, ergibt sich eine gerade Linie oder einfache Kurve, und alles ist klar. […] Wenn man dagegen sämtliche Randbedingungen berücksichtigen muß oder will, kann es geschehen, daß der Faden einen ergreift oder fesselt: Die Maschen, deren Fäden in die verschiedensten Richtungen laufen, bilden ein Seegebiet mit vertrackter Dünung, eine Turbulenz aus kreuzenden Winden, eine durch zahlreiche Umstände bedingte Zelle mit ebenso vielen Dimensionen[.]°° (Serres 1993 [1985]: 358)
Statt sich hier also mit einfachen Kausalketten im Sinne von allzu ‚geraden Linien‘ und ‚einfachen Kurven‘ zufrieden zu geben, reist das Ethnologon ~ vorausgesetzt die persönliche Krise wird überwunden ~ wie erlebt mit seinem feurig emisch wucherndem Temperament etwa über tiefgreifende ‚als-ob‘-Entfremdungslektionen (oder via Natur/Kultur-Dekonstruktionen bzw. interspeziellen Mensch/nicht-Mensch Verschmelzungen (Stichwort °°Trans-species comuncation°° (Kohn 2013: 132) oder °°Multispecies storytelling°° (Tsing 2015: x)) letztendlich in abenteuerlich hoch inspirierend komplexe Welten hinein. Aus allen Richtungen brechen demnach bisher unbekannte ‚Randbedingungen‘ hervor bis man sich schließlich in Serres‘ widersprüchlich-vielschichtiger Dimensionslandschaft wiederfindet, die in einer Mischung aus Verzweiflung und Staunen ergriffen-demütig an die Unfassbarkeit der Welt fesselt.
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9°~:: Zusammengefasst: Das vom Ethnologon ausgehende bifokale Wuchern ist also eine entfremdende Kraft, die im eigenen Sein über radikal emisch gepolte Konstruktionsversuche des Anderen als verfremdende Dekonstruktion des Eigenen aufquellt (und das Zersplittern alter Wahrheiten bewirkt, was mich verzweifeln ließ); sodass dieses verfremdende Es im Gegensatz zu einer arrogant-pseudo-allwissenden Überheblichkeit letztendlich ~ nach dem Überwinden der Krise ~ ein demütig-bestaunend entdeckungsfreudigen Sein anfeuert, welches an die Welt fesselt. Verglichen mit meiner salopp formulierten ‚alles ist klar‘-Grundhaltung vor dem Studium sprudelt also ein völlig neues Lebensgefühl, welches nun antreibend durch die Welt trägt: Es sind nicht mehr unumstößliche das-macht-man-halt-so Wahrheiten bzw. in Stein gemeißelte Werte oder vermeintliche Sicherheiten, welche an die Welt fesseln, sondern ein (aus der Krise hebendes) Staunen über die Unfassbarkeiten der Welt; Verzweiflung, die umschlägt in blanke Verwunderung. Aus °°terrors of indeterminacy°° (Tsing 2015: 1) wird ‚enjoying unpredictability/surprises‘, wenn all das herkömmlich wertend in Schubladen verstauende langsam wegfällt und der Blick allmählich frei wird für die fesselnd-ungeahnte Lebensfülle um uns herum.
°°La vida te da sorpresas,
sorpresas te da la vida, ay dios°°
(Das Leben gibt dir Überraschungen,
ach Gott, Überraschungen gibt dir das Leben)
(Rubén Blades & Willie Colón. Pedro Navaja {1978}; eigene Übersetzung)
So tönt es in einem sehr populären Salsalied ~ Boxen aufdrehen und es laut ins Leben hinein singen!
~ µ ~ µ ~ µ ~ µ ~
10°~:: Stählend durch das Zerbrechen alter Natürlichkeiten, geht das Ethnologie-Studium mit neuen aufregend-auszukostenden Lebendgefühlen einher, die ein genießendes Einlassen auf die Unfassbarkeit des Lebens entfachen und über das Erfreuen an der Lebensfülle durch diese spannende, chaotisch-fragmentierte Welt tragen: Einfach krass, diese seltsame Kohärenz unterschiedlichster Wahrheiten, wie wir Menschen in allerlei Natürlichkeiten aufgehen, in diversen Kulturen leben, also Teil von unterschiedlichsten Selbstverständlichkeitsblasen sind, und wir dabei alle durchweg noch glauben, dass unsere jeweilige Weltsicht aus unumstößlich-universalgültigen Wahrheiten heraus unvermeindlicherweise die Richtige, Wahre, ist ~ irgendwie alles ein ziemlich atemberaubendes Theaterstück, wenn man so will eines mit hunderterlei Schauplätzen, Szenen, Akten und Sets. Eine Welt aus einander beeinflussenden, ineinander verwobenen Dimensionen; die Erde, ein Knäuel von unterschiedlichsten °°cosmunidades°° (Oviedo 2014: 303): Kreativste Fantasy-Autor_innen und Sci-Fi Regisseur_innen können sich nicht mit der vielschichtig emergenten Kreativität dieses Gewirrs an ineinanderfließenden Kosmen messen ~ die Welt, einfach ein unerschöpfliches Reservoir an ungeahnten Geschichten, und das Ethnologon schärft hier Fähigkeiten und reicht Werkzeuge an die Hand (Teilnehmende Bobachtung als Dichte Teilnahme {Spittler}, On Seeing and Observing {Förster},The Ethnographic Interview {Spradley} oder Resonance. Beyond the Words {Wikan}), um sie anzuzapfen.
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11°~:: Zudem kann aus einer kopfschüttelnden Faszination für die Welt, ein ehrliches Interesse für Mitmenschen aufkommen und damit bereichert dieses wuchernde Ethnologon das Leben, aber auch das Zusammenleben:
Die Hemmschwelle steigt, Menschen pauschal als blöd, scheiße, dumm, verrückt, plump, irrational, primitiv etc. pp. abzustempeln, nur weil sie sich vielleicht anders ausdrücken, aussehen, sich auf eine nicht nachvollziehbar-unverständliche Art verhalten oder sich Welten anders erklären. Menschen und Gespräche werden zum Wert, da sich darüber immer wieder Einblicke in zuvor ungeahnte Lebenswelten ergeben, sodass aus einem einander Nachvollziehen, einen verständnisvoll, empathisch-sensibler Austausch wachsen kann (und wie bereits oben erwähnt: In extremer Ausschließlichkeit ist sehr vieles verwerflich, auch diese Einstellung, zum Beispiel wenn es sich um entmenschlichend rassistische Standpunkte handelt; es ist zwar gut sich auch solcherlei Lebenswelten zu erschließen, aber nicht, um in eine relativierende, alles tolerierende Haltung abzudriften, sondern eher, um aus einer detaillierten Kenntnis heraus effektiver gegen sie wirken zu können.)
Was machen Menschen so, wovon träumen sie, was sind Probleme? Ihre Lebenswelten? Wie sieht zum Beispiel die Mensch-Philosophie etwa von Kellner_innen, Barkeeper_innen oder Türsteher_innen aus? Was haben Bootskapitäne über das Medium ‚Wasser‘ zu erzählen? Gibt es unter Pfandsammler_innen Hierarchien, sind sie sozial organisiert und haben sie womöglich eine eigene (Sub-)Kultur ~ wenn ja, wie sieht sie aus? Diese fragende Grundhaltung lässt die Welt zu einer Bühne werden, hinter welche man nur allzu gerne in die Tiefe blicken würde ~ wodurch noch spannend-unglaublicher wird, was sich da eigentlich im Vordergrund auf der Bühne abspielt.
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12°~::Wenn über das Studium also nicht nur versucht wird ethnologische Lektionen zu verstehen und sie ausschließlich als Wissen zu horten, sondern sie aneignend im Sinne einer ‚applied anthropology‘ auf sich selbst anzuwenden und sie als persönliche Aufforderungen zuzulassen, dann wartet auf diesem intensiven, aufwühlenden, wunderschön-anstrengenden Weg nicht nur ein erweiterter Wissensradius als Belohnung, sondern vor allem eine Art Wiedergeburt ~ ein sich schrittweise veränderndes Sein, welches das Leben schlichtweg aufregender macht.
Ein halbwegs ehrlich verinnerlichtes Interesse für das Emische ist in meinen Augen der fruchtbarste Nährboden für eine alltägliche Entdeckungsfreudigkeit und somit als Lebensführung der Schlüssel für ein lebenslang genießendes Staunen über die Detailfülle der Welt ~ °°es ist als werde die Tür zu einem Schatzhaus aufgetan°° (Suzuki 1990: 63): °°ein Gebiet, das, wie wir früher glaubten, im Jenseits lag, erweist sich jetzt […] als Gebiet, das wir täglich Begehen°° (ebd.: 152, eig. Hervorhebung).
Das Ethnlogon sensibilisiert dafür, unterschiedlichste Rhythmen, Stimmungen und Kontexte erspüren zu versuchen, zu lernen sich auf sie einzulassen wie ein Chamäleon, welches mit der Umgebung zu verschmelzen versucht, um übers Plaudern, Zuhören, Beobachten, kurz, übers Dabeisein oder Mitmachen, in unterschiedlichste Lebenswelten einzutauchen ~ Überraschungen sind garantiert. Da ich merke, wie gut es sich anfühlt, dass sich solcherlei Aufforderungen langsam tröpfelnd allmählich niederschlagen in Verhaltensweißen, gönne ich einfach jedem Leben wirklich von Herzen das Wuchern des Ethnologons ~ es führt zu einem tieferen Genuss des Lebens und es müssen nicht mehr außergewöhnliche, womöglich teuer zu erkaufende Events herhalten, um staunend ergriffen vom Leben Glück zu empfinden, wenn schon die Dimensionen der Alltäglichkeit überwältigen und sprachlos machen ~ und deshalb die Empfehlung: Eine Dosis Ethnologie für alle! ~ am besten pur und unverdünnt, direkt hinein in die Adern, °°[to] maintain enough curiosity to notice the strange and wonderful as well as the terrible and terrifying (Bubandt/ Gan/ Swanson/ Tsing 2017: M7)°°.
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°°Ich kümmere mich in keiner Weise um den universitärem Status dessen, was ich tue, weil mein Problem meine eigene Verwandlung ist. Das ist auch der Grund, warum ich, wenn die Leute zu mir sagen: „Vor einigen Jahren dachten Sie jenes, und jetzt behaupten Sie etwas anderes“, antworte: „Glauben Sie, dass ich all diese Jahre so viel gearbeitet habe, um dasselbe zu sagen […]?“°° (Foucault [2007] 2015: 168)
Für Michel Foucault steht also persönliche Verwandlung im Vordergrund für (s)ein akademisches Tun. Andere würden hier möglicherweise eher das ‚Erhellen des Verwunderlichen‘, ‚Entdecken von unbekannt-unerforschtem‘ oder ‚Impulse für sozio-politische Veränderungen‘ als ihre akademischen Triebfedern formulieren. Solch ein vielfältigst geeichtes Gründe-Universum anerkennend, will diese Abhandlung über das ‚Warum‘ der Ethnologie nicht mehr als ein persönlich gehaltenes ‚unter anderem deshalb‘ anbieten. Im Geist dieser zitierten Passage wurde dabei versucht, das titelgebende ‚Warum‘ des Blogs entlang persönlicher Verwandlungslinien auszumalen, um es über das Wuchern des Ethnologons ein wenig erfühlbar werden zu lassen. . .° . . . . ~. . ~. .. . . .° …..°°° ~ .. . . . .. . . ~ ~ . . . . . ° . . …. ~ ~ . ° . . . . . ~ ° ~
° Quellen °
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Tamás Sanyó _ Anschließend an ein nach drei Semestern abgebrochenes Architekturstudium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart spühlte ihn das Leben via einer in Heilbronn absolvierten Schreinerlehre an die Universität Bayreuth, um dort im Bachelorstudium Kultur und Gesellschaft Afrikas vom Ethnologon ergiffen zu werden. Momentan an der Universität Mainz im ersten Semester M.A. Ethnologie studierend. Interessen? – Endlich ethnologisch Feldforschen – das Thema? …muss sich noch etwas festigen.