Wie die Ethnologie zu „interkulturellen“ Diskursen und Perspektivenvielfalt beitragen kann
Blogredaktion: Warum studierst du Ethnologie?
Rebekka Walter: Für mich ist das Besondere an der Ethnologie eine gewisse Haltung. Und zwar eine Haltung von Respekt dem Anderen gegenüber und ein aufrichtiges Interesse an der Lebenswelt des Gegenübers. Der Versuch, Situationen und Menschen zunächst unvoreingenommen und wertfrei zu betrachten, sich auf eine neue Umwelt einzulassen und den eigenen Standpunkt und eigene Prämissen zu reflektieren und zu relativieren.
Was zeichnet aus deiner Sicht eine ethnologische Perspektive aus?
Schon seit Franz Boas und seinen Schüler*innen führt ein kulturrelativistisches Verständnis in der Ethnologie zu einer Arbeitsweise, sich auf neue, andere Umwelten einzulassen und dabei nicht zu werten, sondern erstmal nur zu schauen, was passiert – warum tun Menschen Dinge, die vielleicht zunächst fremd und unverständlich erscheinen. Das ist für mich eine besondere ethnologische Perspektive und eine Eigenschaft, die ich sehr schätze: Menschen im Dialog weitestgehend wertfrei zu begegnen, den eigenen Standpunkt zu relativieren, versuchen zu verstehen, wie mein Gegenüber denkt und dabei weit weg davon zu sein, darüber moralisch zu urteilen.
Welche Relevanz und welches gesellschaftliche Potenzial hat für Dich die Ethnologie im 21. Jahrhundert?
In der Praxis bearbeitet die Ethnologie Probleme mit unmittelbarem Bezug zur Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Eine angewandte Aktionsethnologie setzt sich zum Ziel, Ethnologie in einen gesellschaftlichen Zusammenhang zu setzen, indem Probleme aufgegriffen und gemeinsame Lösungsversuche angestellt werden. Ethnolog*innen können also mehr als nur eine teilnehmende sensibilisierende Rolle einnehmen und auf Thematiken aufmerksam machen, die sonst verdeckt bleiben würden. Lösungen können in einem ergebnisorientierten Dialog erreicht werden, wenn eine subjektive Verständigung aller Beteiligten angestrebt wird und Grenzen, die durch kulturelle Zuschreibungen und Stereotype entstehen, dekonstruiert werden können.
Vor allem in Bezug auf die inflationäre Verwendung des Begriffs „Kultur“ zeigt meiner Meinung nach die ethnologische Herangehensweise ihre Stärke darin, solche Grenzen zu erkennen und zu hinterfragen.
Im Zuge meiner vor einigen Monaten beendeten Bachelorarbeit beschäftigte ich mich ausführlich mit der Verwendung des Kulturbegriffs in der Arbeit mit Geflüchteten. Dabei hatte ich häufig den Eindruck, hier bestünde ein starres Kulturverständnis, eine Vorstellung eines festen Systems von Regeln und Verhaltensweisen, die den Menschen half, die Welt zu sortieren. Im Laufe eines Forschungsaufenthaltes in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Geflüchtete und in Interviews, die ich im Anschluss mit Ethnolog*innen führte, die in der sozialen Arbeit mit Geflüchteten tätig waren, bestätigte sich dieser Eindruck: Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen oder Ehrenamtliche schrieben gewisse Verhaltensweisen der fremden „Kultur“ eines Menschen zu, um diese zunächst einordnen zu können, was aber meist nur der Hervorhebung von Differenzen statt von Gemeinsamkeiten diente. „Kultur“ wurde als essenzielles Element des Wesens eines Menschen verstanden, oft wurden Stereotype reproduziert. Die individuellen Einzelfälle von Geflüchteten wurden selten differenziert betrachtet und „Kultur“ wurde häufig mit Nationen gleichgesetzt („Die syrischen Männer sind eben so“). Die interviewten Ethnolog*innen erzählten mir, es bestünde unter ihren Kolleg*innen zumeist die Annahme eines eindeutig bestimmbaren Kulturraums, der mit einer starren Mentalität verbunden sei.
Dieses Kulturverständnis halte ich für problematisch. Darauf basierend werden kulturelle Verallgemeinerungen gemacht, wobei kaum der individuelle Einzelfall berücksichtigt wird. „Kultur“, zudem oft an die Herkunftsnation gebunden, reproduziert Stereotype und Vorurteile und konstituiert als Differenzmarker eine Andersartigkeit und Grenzen der Fremdheit, deren Überwindung kaum möglich erscheint. Diese exotisierende Tendenz im Dialog mit Geflüchteten impliziert immer eine Andersartigkeit des Gegenübers.
Dementsprechend kritisierte auch Lila Abu-Lughod schon die Verwendung des Kulturkonzepts: „Kultur“ dient als Herausstellung einer Andersartigkeit. Die Dichotomie von „Wir“ und „Anderen“ schafft Grenzen, indem Menschen begegnet wird als Menschen, die anders sind, weil sie aus einer anderen Kultur stammen. Diese Konstruktion von Fremdheit kann in Form von Selbst- und Fremdethnisierungen instrumentalisiert werden, um Positionen und Rollen deutlich zu machen oder sich zu rechtfertigen.
„Kultur“ wird meistens dann herangezogen, wenn es um die Erklärung von Problemen oder Konflikten geht. Die Benennung oder Begründung eines Konflikts als „kulturell“ erklärt nicht die zugrundeliegenden Faktoren, die zu einem Konflikt führten. Stattdessen wird eine Lösung lediglich vorgetäuscht und macht damit Bemühungen um das Verständnis für die wahren Konfliktursachen überflüssig. Diese Erklärung nutzt zwar, um sich mit der Situation zu arrangieren, es wird allerdings darüber hinaus nicht weiter versucht, die Person zu verstehen oder die Ursachen zu bearbeiten.
In diesem Dilemma sehe ich die Möglichkeit für Ethnolog*innen, als Moderator*innen oder Supervisor*innen tätig zu werden, da sie die Kompetenz einer gründlichen Reflexion des Kulturbegriffs besitzen und so zwischen Parteien vermitteln können und dadurch lösungsorientierte Diskurse zu ermöglichen. Es kann eine offene Art der Kommunikation geschaffen werden, indem beteiligte Akteure der leeren Hülle „Kultur“ nicht zu viel Raum geben und kulturbehaftete Vorurteile und Stereotype ausgeräumt werden. Außerdem kann ein Raum für Begegnungen geschaffen werden, indem „Kultur“ nicht als unüberwindbare Hürde fungiert, sondern vielmehr eine Möglichkeit bietet, Perspektivenvielfalt zuzulassen, damit Menschen ein Verständnis füreinander entwickeln können.
Rebekka Walter beendete dieses Jahr ihr B.A. Studium in Ethnologie und Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Im Zuge der Bachelorarbeit forschte sie zur Verwendung des Kulturbegriffes in der Arbeit mit Geflüchteten aus ethnologischer Sicht. Dabei interessierte sie sich vor allem für die Rolle angewandter ethnologischer Kompetenzen, um zu politischen und gesellschaftlichen Diskursen beizutragen. Weiter beschäftigt sie sich mit Thematiken wie Humanismus, Flucht und Migration und postkolonialen Strukturen. Rebekka Walter studiert derzeit Ethnologie im Master an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.