Die bereinigte DGV
Die Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) heißt jetzt Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA). Aus einem dreibuchstabigen Kürzel ist ein fünfbuchstabiges geworden. War ersteres so eingängig und handlich, dass es mit der unheimlichen Großschwester Volkskunde (mit ihren diversen Umbenennungen, die sich aber wohl nicht so unmissverständlich abkürzen ließen) geteilt werden musste (dgv), bedarf die neue Abkürzung langer Erläuterungen und verharrt auch dann noch im Unklaren. Gewiss kann die Aufstockung von 3 auf 5 Buchstaben als Fortschritt und Akt der Ausdifferenzierung ausgelegt werden, zumal das moderne Leben auch immer komplizierter wird und DGSKler einfach besser in die neue digitale Umwelt passen als die schlichten DGVler. Doch es sind mit der Kritik an diesem Schritt als nicht ausreichend begründeter Anpassungsleistung an den sich international verstehenden anglophonen Okzidentalisierungstrend Schwächen offenbar geworden, die mit den mutigen Taten eines Adolf Bastian als Gründer des Faches oder Fritz Krause als Gründer des Fachverbands überhaupt nicht vergleichbar sind. Der Mangel an Geschichtskenntnissen im eigenen Fach wurde in letzter Zeit häufig angemahnt. In diesem Essay soll die Umbenennung ethnologisch interpretiert werden, als Akt der Selbstreinigung, der jede Kultur imperativisch zu folgen hat.
Das Verständnis von Kultur als Säuberungszwang war in der lateinischen Etymologie schon angelegt: wer pflanzen will, muss Unkraut jäten. Pflege (cultura) ist immer mit Vernichtung all dessen verbunden, was den Garten stört. Diese Aufgabe kommt nie zum Abschluss, weil Unkraut nachwächst. Kultur lebt nur in der permanenten Revolution (für radikale) oder Reformation (für gemäßigte Denker). Solche Gedanken wurde in der französischen Sozialwissenschaft von Roland Barthes, Jean Baudrillard bis zu Bruno Latour entwickelt. Das Streben nach Sauberkeit – früher moralischer, heute eher funktioneller (Baudrillard) – hat die Kultur von der Natur geerbt. Schlangen häuten sich regelmäßig, Katzen putzen sich täglich, Bäume werfen (nicht nur im Herbst) Überflüssiges ab. Der moderne Mensch reinigt sich selbst mit einem bisher nie dagewesenen Aufwand an Wasser und Chemikalien, er desinfiziert seine Umgebung (einschließlich der Krankenhaustüren) immer sorgfältiger und poliert sein Auto bis zur Blendung des neidischen Betrachters. Dass seine Umgebungsnatur, von der er anfänglich den Putzwahn abgeschaut hat, dabei zugrunde geht, wird dabei in Kauf genommen. Sauberkeit ist der höchste Wert in allen Kulturen, in der modernen Welt wird selbst zwischen sauberem und schmutzigem Krieg unterschieden, wobei immer die Maßstäbe des Siegers angelegt werden. Bashar al-Assad muss der Einsatz von chemischen Waffen nachgewiesen werden, damit er – auch nach Befriedung fast ganz Syriens – als Verlierer dasteht.
Kehren wir zur Umbenennung der ehrwürdigen Gesellschaft für Völkerkunde zurück und begreifen wir sie als Reinigungsakt. Der Hinweis auf Anpassung an internationale Terminologie offenbart den Rückstand, den der deutsche Geist beim Verstehen fremder Sinnzusammenhänge aufweist und den er aufzuholen hat. Die Reinigungsmittel müssen also aus dem fortschrittlichen angloamerikanischen Westen kommen. Sie heißen Sozialanthropologie und Kulturanthropologie. Dass diese aus der paternalistischen Handhabung von Indianerreservaten hervorging und jene hauptsächlich die kostensparende indirect rule im britischen Weltreich abzustützen hatte, spielt nur noch unter Fachgeschichtlern eine Rolle. Im Vergleich zur gründlich und nachhaltig kontaminierten Völkerkunde (weil hier „völkisch“ und die damit verbundenen Erzübel assoziiert werden können) sind die beiden neuen Etiketten sauber und eignen sich bestens für das überfällige Reinigungsvorhaben.
Die Ethnologie begann mit der Neugier auf scheinbar unsaubere Kulturen. Johann Gottfried Herder sprach von „unpolizierten Nationen“. Deren „wildes Denken“ störte das abendländische Geistesleben aus prinzipiellen Gründen (manchmal war auch eine Befruchtung spürbar wie bei Rousseau, bei Schopenhauer oder Nietzsche), und der Ethnologie kam so etwas wie die Rolle einer Vermittlungsagentur zu. Sie erläuterte den Weltkulturen die Wildkulturen, z.B. mit dem Nachweis, dass auch akephale Dorfgemeinschaften sich um Sauberkeit bemühen, den Dorfplatz regelmäßig kehren und den Abfall in den Busch werfen. Trotzdem geriet eine solche Wissenschaftsdisziplin mit ihrer Sympathie für primitive Reinigungsgemeinschaften zwangsläufig ins Hintertreffen gegenüber allen anderen, dem Fortschritt zuarbeitenden Forschungsrichtungen. Die im modernen Sinne unzulänglichen Sauberkeitsvorstellungen, mit deren Übersetzung sich Ethnographen herumplagten, blieben gleichsam an ihnen haften. Im interdisziplinären Kontext galten Ethnologen gerne als „die mit den Giftpfeilen“, also unsauberen Kampfmitteln, wie sie Verlierer anwenden. Das soll offenbar nunmehr ein Ende haben.
Der Fachverband DGV hat sich gereinigt und den „international“ üblichen Hygiene-Standards angepasst. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Prozess in den noch rückständigeren Ländern, wo Ethnologen oder Ethnographen sich noch so nennen, nachgeholt wird. Für diese peripheren Regionen ist der Berliner Schritt von 2017 ein Vorbild – wie überhaupt Berlin, von dem in der Vergangenheit so viel Elend auf die Welt ausgegossen wurde, heute als Leitstern im Aufbau des internationalen Sozialstaats ohne Grenzen leuchtet: überall auf der Welt sollen die gleichen Wertvorstellungen, Versorgungsstandards und Säuberungspraktiken Gültigkeit bekommen. So will es die Neue Weltordnung, die mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika dem Erdball implantiert wurde und seither sukzessive um sich greift. Heute ist Deutschland – wegen seines früheren Falls in den rassistischen Reinigungswahn – ein besonders beflissener Modernisierungsagent.
Die deutsche Völkerkunde war mit ihrer Leidenschaft für Differenzen, die sie betulich beschrieb und aufwändig ausstellte, bei der angesagten Weltreinigung eher ein Bremsklotz. Sie argumentierte immer gleich kulturrelativistisch und zuletzt trat sie mit ihren Leitbegriffen Autonomie und Souveränität in der neuen Einheitswelt eher für Parallelgesellschaften ein als für einheitliche Hygiene-Standards und universale Ansprüche. Die im neuen Firmenschild ausgewiesene Sozialanthropologie wird den weltweit gültigen Menschenrechten verpflichtet sein und die Kulturanthropologie der Religionsfreiheit. Es wird dann nur noch um Relativismus unter einheitlicher Kontrolle gehen können. Es wird niemanden mehr geben, der sich für das unter den Teppich Gekehrte interessiert, der auf die Nacht-, Rück- und Unterseiten menschlichen Zusammenlebens achtet und der Zweifel an der Identität zwischen vordergründiger Evidenz und hintergründiger Wahrheit zulässt, weil er aggressive von rezessiven Sinnsystemen unterscheiden gelernt hat. Ethnologie als die Wissenschaft von den eigenständigen Wegen zur gesellschaftlichen Selbstpflege scheint sich selbst zu Tode gereinigt zu haben.
Bernhard Streck, Jahrgang 1945, war bis 2010 Professor der Universität Leipzig und Leiter des dortigen Instituts für Ethnologie. Seine zahlreichen Veröffentlichungen betreffen Kulturtheorie, Ideengeschichte, Ethnographie Nordostafrikas und Tsiganologie. Er ist Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften und der Frobenius-Gesellschaft Frankfurt am Main.