Schwangerschaft und ethnologische Feldforschung
Ein Überblick
Paper proposal for the planned handbook “Accompanied Fieldwork in Anthropology”, edited by Julia Koch-Tshirangwana, Judit Tavakoli & Sophia Thubauville, cp. GAA Working Group „Family in the Field” & Handbook Project “Accompanied Fieldwork in Anthropology”
Ethnologische Feldforschung ist eine verkörperte Praxis, die nicht losgelöst von forschenden Körpern und intersektionalen Identitäten der Forschenden stattfindet. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schwangerschaften und Geburten den Ablauf ethnologischer Feldforschung und der dabei angewandten Methoden beeinflussen. Die oftmals neu zugeschriebene Identität und soziale Rolle der (werdenden) Mutter hat beispielsweise Auswirkungen auf soziale Interaktionen und den Forschungsprozess. Veränderter, teils erleichterter Beziehungsaufbau zu bestimmten Gesprächspartner*innen oder aber auch veränderte Verhaltensweisen in Interviews von interviewender und interviewter Person sind Aspekte, die in der Literatur zum Thema Schwangerschaft und Feldforschung hervorgehoben werden. Diese thematisiert auch, dass Schwangerschaften und Geburten die Planung und Strukturierung von Forschungsaufenthalten beeinflussen, welche mit Aufenthalten an anderen Orten verbunden sein können, und somit der Gestaltung und Durchführung von Forschungsprojekten. Medizinische Routinen und Abläufe werden in diesen Planungen oftmals berücksichtigt, jedoch häufig auch umgedeutet und hinterfragt. Risiko-Diskurse, die auch im Kontext der Medikalisierung von Schwangerschaft zentral sind, beeinflussen nicht nur die Planung der Forschung, sondern auch Verhaltensweisen, Erwartungen und Einschätzungen der sozialen Akteur*innen während der Feldforschung.
Dieser Beitrag bietet einen Überblick über Publikationen zum Themenbereich Schwangerschaft und Feldforschung und fasst zentrale Themen zusammen, die schwangere Feldforschende in ihren Beiträgen hervorgehoben haben. Ferner beschäftigt sich der Beitrag auf allgemeinerer Ebene mit grundlegenden Fragen zur Schwangerschaft, die ebenfalls einen Einfluss auf die Feldforschungspraxis haben: was wird in verschiedenen soziokulturellen Kontexten als Schwangerschaft verstanden und wer kann potenziell schwanger werden? Ist es ein weibliches Individuum, ein Paar, oder im Falle einer Couvade ein (co-)schwangerer Mann? Ebenfalls wird thematisiert, dass Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett häufig als Phasen eines einzelnen, untrennbaren Prozesses empfunden und definiert werden. Diese Phasen oder Prozesse können in verschiedenen soziokulturellen Kontexten auf unterschiedliche Art – als zusammenhängend, untrennbar oder separat – interpretiert werden. Eine Geburt kann zwar als Prozess der körperlichen Trennung von Mutter und Kind verstanden werden, jedoch ist dieser nicht zwangsläufig mit der Entbindung gleichzusetzen. Schwangerschaften und Geburten haben neben körperlichen immer auch soziale Dimensionen, und können so beispielsweise erst nach einem Übergangsritual als abgeschlossen gelten. Häufig werden Mutter und Kind so lange als eine Einheit betrachtet, bis sie bestimmte Trennungsriten vollziehen oder bis ein Kind nicht mehr gestillt wird.
Derartige unterschiedliche Verständnisse und Definitionen von Schwangerschaft und Geburt beeinflussen auch ethnologische Feldforschungen, insbesondere dann, wenn die forschende Person schwanger ist, stillt und/oder ein noch sehr junges Kind hat. Normative Vorstellungen und Erwartungshaltungen an schwangere Personen (z.B. hinsichtlich ihrer Mobilität, sozialen Interaktion und Nahrungsaufnahme) werden auch auf Forscher*innen übertragen, können von diesen übernommen oder infrage gestellt werden, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Forschung. Feldforschung als verkörperte Praxis muss daher auch als von diesen Prozessen und Verständnissen beeinflusst verstanden werden, eine Tatsache, die jedoch häufig nicht ausreichend reflektiert wird.
Sinah Theres Kloß hat in Ethnologie an der Universität Heidelberg promoviert. Seit 2020 ist sie Forschungsgruppenleiterin am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies der Universität Bonn. Ihre aktuelle Forschung befasst sich mit der sensorischen Geschichte der Körpermodifikation und konzentriert sich auf die Wechselbeziehung von Religion und Biomacht im hinduistischen Surinam, Guyana und Trinidad. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Konzepte von Schwangerschaft und Geburt aus ethnologischer und feministischer Perspektive.
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