Session 4 | 23 Nov 2023 | Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland.
Wie steht es mit der Dekolonisierung ethnologischer Museen?
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In den letzten Jahrzehnten ist vor dem Hintergrund der postcolonial studies von einem „Unbehagen im Museum“ (Kazeem et al 2009), von „Culture Strike. Art and Museum in the Age of Protest“ (Raicovich 2021)“, oder auch von „de-linking“ (Walter Mignolo 2009) bzw. “debordering”, d.h. Museum ohne jegliche Grenzen (Whitehead 2018) die Rede. Dabei wird festgestellt, dass die europäischen ethnologischen Museen als Zeugnisse der kolonialen Gewalt erscheinen, weil in ihnen einerseits noch so viele Stücke kulturellen Erbes und menschlicher Überreste ehemals kolonisierter Bevölkerungen aus der Kolonialzeit lagern, und andererseits die Repräsentationen dieser Bevölkerungen in musealen Diskursen bzw. Narrativen stets exotisierend und deshalb irritierend sind. Aus diesen Gründen sind die Museen in den letzten Jahren in die Kritik geraten, und es sind viele und unterschiedliche Stimmen lauter geworden, die sie in ihrem Selbstverständnis erschüttern. Diskutiert wird nicht nur die Unrechtmäßigkeit ihrer Bestände, sondern auch die Notwendigkeit der Erforschung der Provenienzen und der Rückgabe kolonialbedingter Sammlungen. Im Sinne einer neuen Museologie ist in diesem Zusammenhang stets von einer „dekolonialen Museumspraxis“ die Rede. Dabei verweist das Wort „dekolonial“ nicht auf den staatsrechtlichen Prozess der Dekolonisation, wie sie die meisten afrikanischen Staaten während der Unabhängigkeitsbewegungen in den 1960er Jahren durch die Beendigung kolonialer Herrschaft bzw. die Auflösung der europäischen Kolonialreiche erlebten, sondern auf die der „Dekolonisierung“. Nach Sebastian Conrad bezieht sich dieser Begriff „auf einen umfassenden Prozess, der weniger präzise zeitlich einzugrenzen ist und die ganze Spannbreite gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Transformationen meint, die mit der Ablösung kolonialer Herrschaftsformen im Zusammenhang stehen. Dekolonisierung betrifft daher auch nicht lediglich die Staaten, die selbst kolonisiert waren oder Kolonialmacht waren, sondern bezeichnet eine grundlegendere gesellschaftliche Veränderung von Vorstellungs- und Ordnungsmustern“ (Conrad 2011, 4). Der Begriff „Dekolonisierung“ wird heute von Institutionen, Organisationen und Fachrichtungen weltweit adoptiert und adaptiert, wobei die Form „dekolonial“ bzw. „decolonial“ bevorzugt wird, weshalb von „decolonial turn“ gesprochen wird.
Doch man darf sich natürlich fragen, was „dekoloniale Museumpraxis“ eigentlich ist, wenn man die museale Landschaft und die Museumspraxis in Deutschland beobachtet. Kann man, wie Silvia Rivera Cusicanqui skeptisch fragt, eine „dekoloniale Theorie“ ohne eine „dekoloniale Praxis“ haben? Kann man einen Anspruch auf Dekolonisierung haben, ohne zu wissen, was die Kolonisation bzw. der Kolonialismus als dehumanisierendes Unterfangen bedeutet? Was untermauert, oder soll die dekoloniale Theorie und Praxis heute untermauern? Wie das Buch Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland zeigt, sind viele Ansprüche auf Dekolonisierung der Museen in Deutschland bisher vielmehr nur Phrasen, aber keine Realität, d.h. keine radikale, aufrichtige Infragestellung gängiger Museumpraxis, Ausstellungsmuster, Wissenskonstruktion und der Provenienz kolonialer Sammlungen. Dies belegen die Beiträge von Bénédicte Savoy – „Im Namen der Wissenschaft“ -, von Albert Gouaffo – „Plädoyer für eine dekoloniale Sprache im Museum“ -, von Richard Tsogang Fossi – „Chronologie und Akteure der Aneignung kamerunischer Kulturgüter“ -, und von Sebastian-Manès Sprute – „Chaos im Museum. Bestandsaufnahme und Wissensordnung“ – eindeutig. Anhand dieser Texte kann die Diskrepanz zwischen dekolonialer Museumstheorie und -praxis hervorgehoben werden, um mehr Reflexion anzustoßen.
Auf einer theoretisch-methodologischen Ebene wurde im Rahmen unserer Forschung nicht nur die Frage nach dem Verbleib der „Objekte“ und ihrer unrechtmäßigen Translokation aufgegriffen, sondern auch Fragen nach ihrer Verbindung mit Archivalien in kolonialen Archiven, nach deren Validität, nach ihren Leerstellen, nach ihrem Verlust oder auch ihrer Zensur durch die Machthabenden.
Gliederung
- Systematisierung des Plünderns durch Kolonialstaat und Museumsleute
- Folgen der Systematisierung für das kamerunische Kulturerbe: Der Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland
- Zur Notwendigkeit der Dekolonialisierung
Zur Vorbereitung auf die Vorlesung sind aus dem „Atlas der Abwesenheit“ besonders geeignet:
Tsogang Fossi, Richard: „Chronologie der Akteure“ S. 61ff
Savoy, Bénédicte: „Im Namen der Wissenschaft“ S. 229ff
Manès-Sprute, Sebastian: „Chaos im Museum…“ S. 265ff
Gouaffo, Albert: „Plädoyer für eine dekoloniale Sprache im Museum“, S. 299ff
References
Assilkinga et al. 2023. Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland. Heidelberg, Reimer (DOI: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1219)
Kazeem-Kamínski, Belinda; Martinez-Turek, Charlotte; Sternfeld, Nora. 2009. Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale Museologien. Wien, schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis.
Mignolo, Walter. 2007. Delinking. Cultural Studies. 21(2): 449-514.
Raicovich, Laura. 2021. Culture Strike. Art and Museums in an Age of Protest. London / New York, Verso.
Whitehead, Christopher. 2019. “De-Bordering the Museum: Voice, Empathy and Archaeologies of Inequality”. In: Dorota Folga-Januszewska et al.: Museums and Identities: Planning an Extended Museum. Krakow, The Museum of Contemporary Art in Krakow.
Empfohlene Zitierweise:
Fossi, Richard Tsogang. 2023. Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland. Wie steht es mit der Dekolonisierung ethnologischer Museen? boasblog Decolonizing Anthropology 16. November, https://boasblogs.org/decolonizinganthropology/atlas-der-abwesenheit/.
Richard Tsogang Fossi ist Germanist und Postdoktorand im Projekt „Umgekehrte Sammlungsgeschichte“ an der TU Berlin (Leitung: Bénédicte Savoy). Er forscht zur deutschen Kolonialgeschichte, zum deutsch-kamerunischen Kolonialgedächtnis sowie zur Provenienz kamerunischen Kulturerbes in Deutschland und den Umständen seiner Verlagerung. In den letzten Jahren hat er an verschiedenen Projekten zwischen Kamerun und Deutschland mitgewirkt, unter anderem an der vielbesprochenen Ausstellung „Hey Hamburg, kennst du Duala Manga Bell?“ im Hamburger MARKK – Museum am Rothenbaum – Kunst und Kulturen der Welt.
Ausgewählte Veröffentlichungen:
Das Reisen als nicht-empirische Erfahrung des Autors. Erscheinungs- und Darstellungsformen des Reisens bei Christoph Ransmayr. Saarbrücken: Akademiker Verlag, 2014.
Interkulturalität der kolonialen Kultur. Am Beispiel der Auseinandersetzung kamerunischer Schriftsteller mit der deutschen Kolonialzeit. Saarbrücken: Akademiker Verlag, 2014.
„«Cameroons» wird deutsch. Geschichte einer manipulativen Wegnahme“. In: Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, (Hrsg. Kollektiv) Berlin (Reimer Verlag) 2023, S. 29-42.
„Chronologie und Akteure der Aneignung kamerunischer Kulturgüter“. In: Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, (Hrsg. Kollektiv) Berlin (Reimer Verlag) 2023, S. 61-93.
„Museen, Missionen und koloniale Kulturgutverlagerung“. In: Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, (Hrsg. Kollektiv) Berlin (Reimer Verlag) 2023, S. 141-154.
„Teile lebender Menschen als Museumsobjekte. Die Aneignung von Haartrachten im kolonialen Kontext“. In: Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, (Hrsg. Kollektiv) Berlin (Reimer Verlag) 2023, S. 173-182.
„Eugen Zintgraff ´s Diary as a Document of Theft and Destruction of Art Treasures in the Colonial Context”. In: Anna Brus, Michi Knecht, Martin Zillinger (Hrsg.): The Post/Colonial Museum, ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften No. 2, 2021/2022, S. 77-90. https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/ZfK/article/view/4126.