26/11/20

„Es scheint alles in Ordnung zu sein auf den ersten Blick nach draußen, aber der Eindruck täuscht…“

Deutschland, München, 18. März – 15. Mai 2020

Photograph by author.

Klara Perle (Pseudonym, 34 Jahre) ist Doktorandin der Kultur- und Sozialanthropologie und lebt zusammen mit ihrem Mann (37 Jahre) und ihrer vierjährigen Tochter in München in einer Wohnung in einem Mehrparteienhaus. In diesem Haus leben neben ihren Eltern (~70 Jahre), ihre Tante und ihr Onkel (~80 Jahre) väterlicherseits sowie andere Nachbar*innen. Während des Lockdowns verbrachte Klara Perle die Tage im Home-Office zusammen mit ihrer Tochter, während ihr Mann weiterhin in einer sozialpädagogischen Werkstatt arbeitete. Klara Perle beobachtet und beschreibt in ihren Tagebuchnotizen die eigenen inneren Veränderungsprozesse, die Interaktionen innerhalb ihrer Familie sowie das Zusammenleben im Haus während des Corona-Lockdowns.

Die folgenden Tagebuchnotizen sind zum Schutz der Personen anonymisiert. Der vollständige Name der Autorin ist der Redaktion bekannt.

 

Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen am 18.3.20. Aber bereits vorher vermehrten sich die Anzeichen, dass sich das Corona-Virus langsam ausbreiten und immer engere Kreise um unser Leben ziehen würde nach dem ersten Ausbruch bei Webasto in Starnberg. Plötzlich waren alle Desinfektionsmittel in den Apotheken ausverkauft; nach und nach schlossen die Schulen in unserer Nachbarschaft wegen Infektionsgefahr; reihenweise wurden Veranstaltungen und Termine abgesagt und plötzlich stellte sich heraus, dass jemand in der Familie einer Freundin bei Webasto arbeitete und kürzlich Kontakt zu der chinesischen Kollegin hatte, die das Virus aus China eingeschleppt hatte. Schlussendlich schloss dann auch noch aus Sicherheitsgründen der Kindergarten unserer Tochter. Das Virus war angekommen und so beschloss ich am 18.3.20 ein ethnographisches Tagebuch über das Leben mit dem Virus zu schreiben.

 

Corona-Tagebuch vom 18.3.20

Heutige Geschehnisse: Nachdem ich meine vierjährige Tochter zu meinen Eltern gebracht habe und mich an meinen Arbeitsplatz im Home-Office setzen wollte, erreichten mich zahlreiche Anrufe. Die Familie, alte Bekannte, die mir noch nachträglich zum Geburtstag gratulieren wollten und plötzlich die Zeit hatten sich zu erinnern. Wo doch diese Art von Geburtstagsgratulanten die letzten Jahre immer seltener wurden, weil wohl Facebook sie nicht mehr daran erinnerte… Alle versuchten plötzlich mitten unter der Woche hereinzuklingeln, was sonst nie der Fall war. Wen hat man mittwochs vormittags unter normalen Umständen denn schon per Telefon erreicht? Was für eine Unverschämtheit bei jemanden anzurufen – da musste es schon ganz doll brennen. Und jetzt? Jetzt haben sie alle Zeit, weil auch sie jetzt im Home Office sitzen, was ich eigentlich schon immer gemacht habe – aber eben fast kein anderer so wirklich. Diese anderen durfte man morgens gegen 10 Uhr eigentlich nie anrufen. Mich aber jetzt schon?! Ich spüre Trotz und Wut und gehe nicht ran. Meine mühsam über die letzten Jahre erarbeitete Arbeitsroutine will ich mir jetzt nicht einfach nehmen lassen. Währenddessen schickt mir ein Freund WhatsApp-Nachrichten von seinem Home Office – darauf ein Bild von seinem Kind in einer Babywippe neben seinem aufgeklappten Laptop. Ich frage mich, ob das Bild inszeniert ist, oder ob er wirklich gleichzeitig auf die Tochter aufgepasst und Zeit zum Arbeiten hat? Ich entscheide mich für die Inszenierung – nur zu gut erinnere ich mich an meine Zeit, als ich versuchte mit anderen Müttern zusammen ein Elternbüro aufzubauen: Arbeiten mit Kind?! Es scheiterte an der Unvereinbarkeit!

Es ist kurz nach 12 Uhr, ich hole meine Tochter bei meiner Mutter ab und werde von ihr zum Mittagessen eingeladen. Das war schon lange nicht mehr der Fall… Meine Mutter ist ganz aufgelöst, weil mein Vater seit 8 Uhr morgens nicht mehr vom Zahnarzt zurückgekehrt ist. Ich rate ihr doch einfach dort anzurufen – wann hätte meine Mutter je zuvor bei einem Arzt angerufen, um sich nach dem Verbleib meines Vaters zu erkundigen? Dafür war sie immer zu beschäftigt. Ich frage sie, wie er denn unterwegs sei? Es sei mit dem Fahrrad gefahren – ich schlucke. Einerseits bin ich froh, dass er nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren ist wegen der Ansteckungsgefahr. Fahrrad fahren ist gerade das neue Fortbewegungsmittel – aber ob das so eine gute Idee war mit dem Rad zu einer Zahn-OP fahren? Später kommt mein Vater dann doch noch sichtlich geschafft von der Operation nach Hause. Ich bin verärgert und schimpfe ihn fast, warum er sich hat nicht hinfahren lassen. Außerdem finde ich es gerade höchst unverantwortlich, wenn sie als über 70jährige – also die Risikogruppe – momentan medizinische Operationen vornehmen lassen. Das senkt doch ihre Immunabwehr enorm! Außerdem empfehle ich meinem Vater, der immer noch einen Seniorposten in einer Firma innehat, doch bitte auch endlich mal alle Treffen und Termine per Skype abzuhalten wie alle anderen auch. Er schaut mich nur verächtlich an. Meine Mutter erklärt, selbst die Parteivorsitzenden würden ihre Sitzungen in München zur anstehenden OB- und Stadtratswahl jetzt auch online abhalten… Später rede ich meiner Mutter ins Gewissen – erst erkundige ich mich noch, ob sie denn momentan noch Termine habe. Sie verneint. Dann könne sie meinen Vater doch bitte mit dem Auto zum Arzt fahren, meine ich. Ich füge hinzu, im Moment kann sich keiner einen Radunfall leisten, denn keiner weiß wer da momentan noch im Krankenhaus aufgenommen und gut versorgt wird – geschweige denn man steckt sich dann schlussendlich noch vor Ort mit dem Virus an! Ich frage mich insgeheim, ob ich zu viel Panik mache? Wir verabschieden uns und verabreden uns für das Wochenende, um gemeinsam das neue Hochbeet im Garten aufzubauen.

Erschöpft von der Dichte der Diskussionen in diesem kurzen Zeitraum brauche ich eine Mittagspause – eigentlich nichts neues, die habe ich mir auch schon in früheren Zeiten vor dem Virus gegönnt. Das ist schließlich ein Vorteil am Home Office. Am Nachmittag wäge ich ab, ob ich nun wirklich mit meiner Tochter zur tagtäglichen Besorgungsrunde mit dem Fahrrad ausrücken soll, aber die gestrigen Erlebnisse halten mich davon ab. Schließlich wurde ich gestern im Supermarkt von mehreren alten Leuten blöd angesprochen, ich hätte doch bitte mein Kind zu Hause lassen sollen, schließlich sei dies die Hauptansteckungsquelle Nr. 1!

So widme ich mich unserem Balkon, der noch im Winterschlaft steckt, aber wohl in den nächsten Wochen und Monaten zu unserem persönlichen Frischluftrefugium werden wird. Ich habe noch keine Viertelstunde dort verbracht, als mich meine Tante von nebenan anruft, sichtlich aufgelöst.

Sie, über 80 und lungenkrank, gehört zur hochgefährdeten Risikogruppe. Seit einigen Tagen leidet sie an Erkältungssymptomen und geht nicht mehr vor die Tür. Sie ist hin- und hergerissen, die Symptome auf ein besonderes Asthmamedikament zu schieben oder doch auf Corona. Ihr kommen die Tränen. Sie habe versucht die Münchner Corona-Hotline zu erreichen, aber es gibt kein Durchkommen. Was solle sie machen? Sie kann sich nicht testen lassen. Ein Anruf bei ihrer Hausärztin bringt sie auch nicht weiter – sie könne keinen Test machen, weil sie nicht in einem Risikogebieten war. Außerdem habe sie jetzt von ihrer Schwester in NRW erfahren, dass sich dort Bekannte angesteckt hätten und einer davon jetzt auf der Intensivstation liege. Und besonders ansteckend seien ja die kleinen Kinder, die können gleich drei, vier andere auf einen Schlag anstecken… Jetzt sind also die kleinen Kinder die Hauptüberträgergruppe! Ich versuche sie zu beruhigen und biete ihr an ab sofort für sie und meinen Onkel die Einkäufe zu übernehmen. Aber genau heute haben sich ihre lange verschollenen Kinder gemeldet, und ihr das auch angeboten. Sie haben jetzt mehr Zeit meinte sie, da der eine arbeitslos sei und der andere im Home Office arbeite. Insgeheim bin ich erleichtert – ihre Kinder kümmern sich endlich um ihre Mutter, was bisher immer meine Familie übernommen hatte.

Ich widme mich wieder meinem Balkon und überlege dieses Jahr vor allem Gemüse und Obst anzubauen. Ich träume schon seit langem von einem Selbstversorgerbalkon – wenn das nicht der perfekte Moment dafür ist!

 

Übertreibe ich zu sehr mit meinen Sorgen? Oder ist die Situation in München schon alarmierender als in Hamburg?

 

 

Kurz darauf meldet sich per Telefon eine Freundin aus Hamburg. Sie gratuliert mir noch nachträglich zum Geburtstag. Wie lange haben wir schon nicht mehr telefoniert? Fünf Monate oder sieben Monate? Sie erzählt mir ganz beschwingt, dass sie jetzt endlich Zeit habe tagsüber zu telefonieren, da sie im Home Office sei. Ich freue mich auch. Sie arbeitet bei einer NGO, die Mitarbeiter*innen in Entwicklungsprojekte in die ganze Welt entsendet. Den ganzen Tag sei sie damit beschäftigt die deutschen Mitarbeiter*innen im Ausland über den Sinn oder Unsinn einer Rückkehr zu beraten. Menschen, die seit Jahren im Ausland leben und arbeiten wollen plötzlich in den Schoss ihres Heimatlandes zurückkehren, um hier die gute medizinische Versorgung genießen zu können. Ich denke mir insgeheim, puh in spätestens zwei Wochen ist es hier vorbei damit, wenn #flattenthecurve nicht angeschlagen hat… Sie ist guter Stimmung, nicht einmal die Tatsache, dass ihr Mann sich vor einer Woche einer schweren, aber geplanten OP unterzogen hat und nun auf der Intensivstation liegt, kann ihre gute Laune trüben. Ich will schon ansetzen sie zu bemitleiden, aber sie meinte ganz beruhigend, seine Station sei jetzt von allen „leichteren“ Fällen geräumt worden – niemand könne mehr rein in die Station, geschweige denn Besuch empfangen! Er sei dort sicher! Stattdessen mache sie sich vielmehr Sorgen darüber, dass sie jetzt für Wochen alleine zu Hause sein werde. Deshalb will sie sich weiterhin mit Freunden zum Essen treffen und Sport machen, sonst falle ihr ja die Decke auf den Kopf. Daraufhin bekomme ich ein schlechtes Gewissen gegenüber einer Freundin aus München mit der ich eigentlich heute im Café verabredet war. Aber vorsorglich habe ich das Treffen zu Skype verlegt. Übertreibe ich zu sehr mit meinen Sorgen? Oder ist die Situation in München schon alarmierender als in Hamburg?

Danach ist wieder Zeit für den Balkon. Nach den vielen Telefonanten habe ich ganz vergessen, dass meine Tochter immer noch vor dem Fernseher sitzt… Ich ergreife die Fernbedienung und schalte sofort aus. Wütend und schreiend verlässt meine Tochter das Zimmer.

Jetzt ist Zeit für den Balkon. Es ist ein herrlicher Frühlingstag; es ist fast schon zu heiß und ich reiße alte Stängel aus der Erde, reinige Töpfe und Blumenkästen. Ich mache meiner Tochter ein Friedensangebot und lade sie zu einem kleinen Picknick auf dem Balkon ein. Wir machen es uns auf einer Decke gemütlich, trinken Tee und plaudern als wieder das Telefon klingelt.

Es ist mein Mann, er ist ganz aufgelöst und erzählt etwas von der Polizei und einem kleinen Kind, dass er gerettet hätte. Er komme deswegen später aus der Arbeit. Ich verstehe nicht ganz was los ist, sage ihm aber, das sei doch kein Problem. Schließlich habe ich ja gestern auch nach dem Einkaufen einem alten Mann geholfen, der ganz verwirrt und ohne Jacke auf einer großen Straße herumirrte und nach einem Taxi suchte. Es scheint mir als keimen plötzlich eine Solidarität und ein „Aufeinanderschauen“ in der Öffentlichkeit auf, wo vorher sich jeder nur um sich selbst gekümmert hat, da man ja bereits zum nächsten Termin musste.

Meine Tochter und ich werkeln noch eine Weile auf dem Balkon, während wir auf meinen Mann warten. Denn wenn er kommt, so haben wir in dieser Ausnahmesituation beschlossen, übernimmt er die Aufsicht unserer Tochter und ich kann Besorgungen und Erledigungen draußen machen.

Endlich konnte ich zu meiner täglichen Rundfahrt mit dem Fahrrad aufbrechen. Einmal am Tage habe ich mir vorgenommen, drehe ich eine Runde in der „Außenwelt“ – sei es für den Gang zum Supermarkt, zur Bank, zur Post oder um einfach frische Luft zu schnappen und zu beobachten wie die Stadt und ihre Bewohner*innen sich verändern. Kaum hatte ich mein Rad aus dem Schuppen geholt, traf ich auf eine der Nachbarinnen, die auch gerade eine Runde drehen wollte. Ich fragte sie wie es ihnen gehe. Sie meinte, sie seien alle gesund, aber trotzdem sah sie bekümmert aus. Sie habe gerade einen neuen Raum für ihre Kindertagesstätte angemietet, Handwerker für die Renovierung bestellt und neue Leute eingestellt. Ab April sollte es losgehen – aber nun? Sie wisse nicht wie sie die Miete und die Gehälter zahlen solle, die Handwerker bekämen kein Material mehr und können nicht weiterarbeiten… Ich versuchte sie zu beruhigen und meinte dafür gebe es doch sicherlich Hilfe von der Stadt… Sie meinte, sie wisse es nicht. Es sollte ein Online-Formular hochgeladen werden, aber die Seite ist seit Tagen überlastet.

Während wir reden, gesellt sich ein anderer Nachbar mit seinem Fahrrad hinzu. Wir müssen seltsam aussehen mit dem vorgeschriebenen 1,5 Meter Sicherheitsabstand zueinander. Der Nachbar frägt, ob wir denn alle gesund seien… Wir bejahen. Er erkundigt sich wie es mit meiner Tochter läuft, ich meinte, der Lagerkoller stehe noch aus… Er vermisse ja besonders die Fußballspiele; dass sogar die Fußballspiele abgesagt wurden, das könne er gar nicht verstehen. Außerdem, meinte er, habe er im Internet gelesen, dass die Amerikaner das Virus erfunden hätten, um uns zu schaden. Ich schaue ihn fragend an und denke mir: So ein Quatsch, ein Verschwörungstheoretiker! Es geht noch weiter – außerdem seien überall nach Deutschland amerikanische Panzer verlegt worden… Die Nachbarin schaut ihn ganz verunsichert an und meint: Ach wirklich ja? Ich sage zu ihm, das solle er sich mal keine Sorgen machen… Es wird mir zu bunt und ich will noch im Sonnenschein zu meiner Radtour aufbrechen. Ich gebe mich versöhnlich und meine zum Abschied: Seien wir froh, dass wir nicht zur Risikogruppe gehören und jetzt muss ich dringend zur Bank!

In der Bank reinigt gerade eine Putzkraft den Schalterraum. Ich beobachte sie genau, aber so eine richtige Hygieneausrüstung scheint sie nicht zu haben, obwohl ja extra ein Schild an der Tür hängt, dass hier täglich desinfiziert würde… Ein anderes Schild weist darauf hin, beim Anstellen am Schalter bitte den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von 1,5m einzuhalten und außerdem werde das Händeschütteln jetzt durch ein herzliches Lächeln ersetzt. Ich trete an den Geldautomaten heran und greife nach meinem Geldbeutel, anstelle dessen erwische ich nur meine Wollhandschuhe, die ich seit dem Ausbruch des Virus immer bei mir trage. Kurz überlege ich sie anzuziehen, um den Geldautomaten zu bedienen, aber ich will mich nicht lächerlich machen vor den anderen Kund*innen. Vor ein paar Wochen noch war es kalt draußen, da fielen solche Handschuhe nicht weiter auf. Aber jetzt bei diesem frühlingshaften Wetter…Vielleicht sollte ich nächstes Mal doch Gummihandschuhe mitnehmen? Ich checke schnell unseren Kontostand und überlege mir wieviel Geld ich abhebe. Im Hinterkopf habe ich dabei die Stimme meines Mannes, die sagt, ich solle bitte mehr als sonst abheben, schließlich sollten wir in dieser Situation immer mehr Bargeld zu Hause haben. Schließlich wisse man ja nie, wann die Banken schließen würden. Dabei kommt mir die Finanzkrise in Griechenland in den Sinn…
 

Es ist genug – auch Corona hat mal Feierabend!

 

 

Erfrischt komme ich von meinem kleinen Ausflug zurück und bringe mein Fahrrad in den Keller. Das ist umständlich geworden – so viele Griffe, Schalter, Klinken und Türen müssen berührt werden, und nicht alle kann man mit dem Ellenbogen bedienen. Ich komme an unserer allgemeinen Infotafel für die Hausbewohner*innen vorbei. Seit ich von den solidarischen Aktionen und Aushängen unter Nachbarn gehört habe, spiele ich mit dem Gedanken die extra erstellte Liste zur Nachbarschaftshilfe von nebenan.de aufzuhängen. Aber noch ziere ich mich… Am Ende muss ich dann für alle alten Leute im Haus Einkäufe machen, da reicht mir schon meine eigene Familie… Ich warte auf den Aufzug und checke ob er leer ist… Ich lache über mich selbst, will aber trotzdem momentan mit niemandem den Aufzug teilen. In unserer Wohnung angekommen, gehe ich wie gewohnt ins Bad, um das 30s Waschritual zu beginnen. Wir haben uns mit zahlreichen Seifen aller Art eingedeckt. Da ich mit dem Abendessenmachen dran bin, schütte ich mir noch zusätzlich einen Schwall Desinfektionsmittel über die Hände – sicher ist sicher! Ich wundere mich kurz wie voll die Flasche noch ist. Schließlich ist es die einzige im Haus und die habe ich schon vor mehr als zwei Wochen gekauft…

Noch kurz tauschen wir uns beim Abendessen über die neuesten Corona-Nachrichten aus. Den Rest des Abends verbringen wir spielend mit unserer Tochter. Es ist genug – auch Corona hat mal Feierabend!

 

 

Corona-Tagebuch vom 19.3.20

Ich bringe meine Tochter wieder zu meinen Eltern. 9 Uhr war ausgemacht, aber wir schlagen erschöpft und verheult erst um 9.30 Uhr auf. Es war ein Kampf; meine Tochter wehrte sich mit Händen und Füßen, sie habe so große Angst die Wohnung zu verlassen und zu meinen Eltern zu gehen… Es tut mir in der Seele weh, aber ich weiß auch, dass ich Zeit und Raum brauche, um die vielen momentanen Veränderungen zu verarbeiten. Und die Kindergärten momentan geschlossen sind, bleibt mir nichts anderes über.

Wieder zurück an meinem Schreibtisch treffen sich eine befreundete Psychologin und ich zum Skypen – eigentlich hatten wir uns letzte Woche noch in einem gemütlichen kleinen Café verabredet, aber das scheint uns jetzt nicht mehr angemessen. Kurz verschwende ich einen Gedanken an das Café, ob es wohl bald schließen muss und denke an die vielen Gutscheinaktionen, die gerade ins Leben gerufen werden, um Cafés und Restaurants zu retten.

Die Freundin erzählt mir, dass die als Therapeutin weiter arbeite und auch gerade versuche auf Online-Therapie umzustellen, aber das ja auch nicht jedem Patienten gelingt und die Krankenkassen das noch nicht voll zur Abrechnung anerkennen. Es aber so dringend notwendig wäre für viele Patienten, die gerade jetzt noch viel mehr Ängste und Probleme aufgrund des Virus haben und Unterstützung brauchen. Ich erzähle ihr von der angstvollen Reaktion meiner Tochter heute Morgen und sie meint, dass Kinder jetzt wieder ins Kleinkindalter verfallen, anhänglich werden und eventuell sogar wieder einnässen. Man solle sich einen kindgerechten Umgang überlegen, denn sie spüren jetzt die unterschwelligen Ängste und Emotionen der ganzen Veränderungen viele stärker als die Erwachsenen. Wir müssen sie gerade jetzt noch viel mehr emotional schützen und begleiten! Denn die kleinen Kinder sind jetzt zur Hochrisikogruppe Nr. 1 auserkoren geworden als Hauptüberträger des Virus. Denn diejenigen, die eigentlich sonst zu der verwundbarsten und schützenswertesten Gruppe gehören, sind jetzt die Gefahr. Welch‘ dramatische Wendung!

 

Alle scheinen gerade in einem permanenten Krisenmodus zu sein und ordnen alles dem Notfall unter […] wenn alle Kulturkritik verloren geht, oder in die Ecke der Verschwörungstheorien geschoben wird, dann sind autoritären Tendenzen Tür und Tor geöffnet.

 

 

Wir sprechen über viele Dinge und kommen gar nicht hinterher alles zu besprechen, so viel hat sich in den letzten Tagen verändert. Ich fühle mich schwebend, schwirrend, weil alles sich so schnell ändert… Ich habe keine Zeit das groß zu analysieren, da die Dichte der Ereignisse so dicht und schnell ist. Wo kann ich mir da Raum zum Reflektieren und Einordnen als Forscherin nehmen? Es kommt zu einer Beschleunigung von Notmaßnahmen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens, aber gleichzeitig zu einer Entschleunigung, weil weniger passiert als im Normalalltag. Alle scheinen gerade in einem permanenten Krisenmodus zu sein und ordnen alles dem Notfall unter. Aber wie kann man sich Zeit und Raum wieder aneignen und sich seiner Selbst wieder ermächtigen und Verantwortung übernehmen, um schon jetzt die Transformation der Gesellschaft mitzugestalten, die sich gerade in Echtzeit vor unserem Auge vollzieht. Denn wenn alle Kulturkritik verloren geht, oder in die Ecke der Verschwörungstheorien geschoben wird, dann sind autoritären Tendenzen Tür und Tor geöffnet. Wie also wieder handlungsmächtig werden und aus dem persönlichen Krisenzustand rauskommen?

Nach Gespräch mit ihr komme ich wieder in meine Kraft und kann besser aussteigen aus dem sich permanent verändernden Kleinklein des Alltags und endlich wieder größere, systemische Zusammenhänge sehen. Ich fühle mich wieder handlungsmächtig in meiner Rolle als Wissenschaftlerin und bereit den Wandel zu dokumentieren.

 

Wie konnte es soweit kommen, dass meine Eltern plötzlich wieder mitbestimmen wen ich treffen darf und wen nicht?

 

 

Heute kam es dann in der Familie zum Konflikt: Ein lange geplanter Besuch bei einer befreundeten Familie im Münchner Umland wird plötzlich zum großen Politikum. Meine Eltern, die zufällig meinen Plan mitbekommen haben, stellen mich vor die Wahl: Fahre ich, werden sie nicht mehr auf meine Tochter aufpassen damit ich arbeiten kann. Bleibe ich, werden sie weiterhin aufpassen. Aber wie lange noch? Ein Generationenkonflikt macht sich zusehends bemerkbar und die Panik unter den alten Leuten steigt von Tag zu Tag. Ich fühle mich fremdbestimmt und wieder zum Kind degradiert! Wie konnte es soweit kommen, dass meine Eltern plötzlich wieder mitbestimmen wen ich treffen darf und wen nicht? Dabei kommt mir auch die Angst in den Sinn, die mir meine Tochter derzeit spiegelt, wenn sie zu den Großeltern gehen soll. Vielleicht ist es gar nicht ihre, sondern die unbewusste der Großeltern vor einer möglichen Ansteckung, die die Kleine spürt… Das Todesargument in Zusammenhang mit dem Virus hebelt alles aus. Grenzen verschwimmen und lösen sich auf – Menschen mischen sich ein in die Leben anderer, weil deren eigene Körper gefährdet sind.

 

Ich finde es gibt auch ein soziales Immunsystem neben dem Individuellen. Doch die Medikalisierung der Gesellschaft scheint mir in vollem Gange zu sein!

 

 

Der Diskurs erinnert mich an die Diskussion um das Rauchverbot in Bayern. Wie viele individuelle Bedürfnisse muss der Einzelne opfern, um nicht von der Gesellschaft verstoßen zu werden? Und das geht momentan leicht. Jedes Flanieren im Park, Posten von Freizeitbildern in den sozialen Medien und von Gruppenbildern mit Menschen, die nicht zum engen Familienkreis gehören, können einen Shitstorm nach sich ziehen. Doch es gibt auch Risikogruppen wie psychisch erkrankte Menschen, die weniger aufgrund des Virus gefährdet sind, sondern vielmehr weil die soziale Isolation sie vulnerabel macht. Ich finde es gibt auch ein soziales Immunsystem neben dem Individuellen. Doch die Medikalisierung der Gesellschaft scheint mir in vollem Gange zu sein!

Außerdem werde ich wütend auf die Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern – nur weil meine Arbeit für das Home-Office geeigneter ist, muss ich als Frau zurückstecken und sehe mein Arbeiten überhaupt in Gefahr? Was bleibt einem in solchen Situationen anders übrig als das Kind vor den Fernseher zu setzen? Das mit dem eigenen Gewissen zu vereinbaren ist das eine, das andere später die Kritik der Gesellschaft zu erfahren wie unverantwortlich das doch war…

Aber nicht meine Eltern waren entrüstet über den geplanten Besuch, auch mein Mann. War er sonst immer froh einen freien Nachmittag für sich zu haben, so warf er mir jetzt Verantwortungslosigkeit vor. Für mich aber würde dieser Besuch aber viel mehr als das Treffen mit einer Freundin darstellen. Die Chance die Stadt (natürlich per Auto) zu verlassen, um mit einem forschenden Blick die Veränderungen am Land zu registrieren und mir ein größeres Bild der Lage zu machen, juckt mich sehr. Und außerdem die Veränderungen mit ihr zu reflektieren, denn der Face-to-Face-Kontakt fehlt mir sehr sowie der Blase der eigenen Wohnung zu entkommen. Doch die gesellschaftliche Verachtung für solche „Luxustätigkeiten“ steigt! Wurde nicht auch schon vor der Krise die Existenz von Kultur- und Sozialwissenschaften immer wieder in Frage gestellt – man solle lieber etwas Sinnvolles ausüben. Jetzt solle man lieber solche „gefährlichen“ Tätigkeiten einstellen, die sind schließlich nicht systemrelevant.

Die Arbeit auf dem Balkon kommt voran und meine Tochter kann sich hier stundenlang selbst beschäftigen. Was für ein kostbares Gut so ein Stück Natur bei sich zu Hause zu haben! Wobei ein enger Reihenhausgarten momentan sicherlich auch nicht gerade stressfrei ist unter den Nachbar*innen. Kurz sichte ich meine Tante am gegenüberliegenden Balkon, die sonst immer den Kontakt sucht und sich zu einem Schwätzchen hinreißen lässt. Jetzt aber zieht sich schnell wieder nach innen zurückzieht.

Später am Nachmittag drehe ich wieder meine Runde mit dem Rad. Gerade in Richtung der Geschäfte sind viel mehr Menschen als sonst zu Fuß unterwegs oder mit dem Fahrrad – in erhöhtem Tempo wohlgemerkt! Die Geschwindigkeit auf den Radwegen hat zugenommen – auch die geradezu martialische Ausrüstung vieler Radfahrer erinnert mich mehr an Abenteuer-Touren im Großstadtdschungel als gemütliche Einkaufsfahrten.

Ich fahre an der Apotheke vorbei und sehe schon von weitem einen aus roten Absperrbändern, orangen Warnschildern und gelb markierten Hinweistafeln erstellten Parcours. Die Apotheke ist zur Hochsicherheitszone geworden. Einzeln sollen die Kunden eintreten, Abstand halten und bei Fieber oder anderen Corona-Symptomen erst gar nicht eintreten. Wo sonst kundennahe Atmosphäre und Beratung herrschen, sind jetzt große Glaswände an den Kassen angebracht worden, die an alte Schalterhallen erinnern. Draußen stehen Menschen, die gerade Schutzmasken auspacken, wobei unklar ist, ob sie diese extra anziehen, um sich in die Apotheke begeben, oder ob sie sich für draußen rüsten…

Ich gehe über das Zwischengeschoss der U-Bahn zu einem großen Einkaufszentrum. Es herrscht gespenstische Leere auf dem Bahnsteig wie an einem Sonntagnachmittag. Überall verweisen Hinweistafeln auf ausgedünnte Fahrpläne und Schienenersatzverkehr. Die Adern der Stadt scheinen zum Erliegen gekommen zu sein, obwohl doch gerade erst noch über den Bau eines zweiten S-Bahntunnels diskutiert wurde, um den öffentlichen Nahverkehr in München zu entlasten. Der Bäcker mit Café im Sperrgeschoss hat noch geöffnet und hat seine neuen Besuchsregeln in einem komplizierten Schrieb auf eine Schiefertafel angebracht. Drinnen herrscht ein sogenanntes „Sitzverbot“ und es gibt nur noch Essen to go.

Ich gehe im Einkaufszentrum in einen Drogeriemarkt. Vereinzelt laufen Kunden durch die Gänge, die penibel genau das 1,5-Meter-Abstandsgebot einhalten. Es scheint alles zu geben: überall stapeln sich unausgepackte Kisten und Palletten zwischen den Regalen. Nur in der Klopapierabteilung herrscht gähnende Leere. Vorne an der Kasse gibt es ein neues Anstellprozedere. Absperrbänder und Bodenmarkierungen weißen auf den gebotenen Sicherheitsabstand von 1,5-Meter-Abstandsgebot hin. Die Frau vor mir möchte zwei kleine Päckchen mit desinfizierenden Handreinigungstücher kaufen. Die Kassiererin ausgestattet mit Gummihandschuhen sagt streng, dass sie nur eines ausgeben könne pro Person. Schnell eilt ein Freund der Kundin herbei, um sich als zweite berechtigte Person auszuweisen. Ich bin an der Reihe und komme kaum an das Fließband heran, da eine eigenartige Konstruktion aus Plastikkisten eine künstliche Barriere zwischen der Kassiererin und mir aufbaut. Ein Schild bittet um kontaktloses Zahlen.

Im ADIL später scheint alles wie immer zu sein – die Supermarktkette hat schnell reagiert und sämtliche Pflanz-, Garten-, Heimsportartikel und Spielzeuge für Kinder in die Regale sortiert, die jetzt dringend benötigt werden. Da fast alle Geschäfte zu haben, die nicht Teil der täglichen Versorgung sind, frage ich mich doch, warum ausgerechnet noch Baumärkte geöffnet haben? An der Kasse wird wieder um kontaktloses Zahlen gebeten. Die Kassiererin scherzt mit einem Bekannten, der auch ansteht und fragt warum er einen Fertigkuchen kaufe? Ob er denn nicht jetzt endlich Zeit zum Kuchenbacken habe?

Ich kehre von meiner täglichen Radrunde zurück nach Hause und treffe im Hof den Hausmeister an, der mir vom Kampf gegen die Ratten berichtet. Eine Nachbarin habe Ratten unter dem Gartenhaus meiner Eltern entdeckt und Alarm geschlagen. Der Hausmeister und meine Eltern sind sofort ausgerückt, um die Ratten zu vergiften. Stolz berichten sie mir von ihrer Aktion. Ich frage mich, ob die Ratten erst im Zuge der Corona-Krise eingezogen sind, oder vorher einfach ein ungestörtes Leben führen konnten, da keiner ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Morgen möchte meine Mutter im Baumarkt noch mehr Rattengift kaufen. Erstaunt bemerke ich wie meine Eltern im Alleingang die Hochbeete im Garten aufgebaut haben. Eigentlich wollten wir es doch zusammen machen… Ich bin verwundert über ihren Alleingang. Oder haben sie am Ende doch Angst sich bei uns „Jungen“ mit dem Virus anzustecken?

Am Abend rolle ich meine Yogamatte aus, um mich zu endlich zu entspannen – wie viele Jahre nehme ich mir das schon vor? Meine Tochter gesellt sich dazu und wir üben still nebeneinander. Nachdem ich sie ins Bett gebracht habe, schalte ich doch nochmal das Handy an und es erreichen mich schlechte Nachrichten aus dem Land, wo ich für meine Doktorarbeit drei Jahre lang geforscht habe. Auch hier ist es also losgegangen. Es gibt schon 7 Fälle! Eben noch haben mir Freunde von dort Gottes Segen und viel Gesundheit gewünscht. Jetzt spreche ich ihnen Mut zu und erzähle von unseren Erfahrungen hier, schließlich sind wir ihnen ein paar Wochen voraus. Ich trage mich noch schnell in die neue Covid-19-Landesgruppe bei Facebook ein und scrolle mich durch die Nachrichten. Das Land diskutiert, warum die infizierten Menschen in den Quarantäneeinrichtungen ohne Matratzen auf dem Boden schlafen müssen. Und es geht um den Hamsterkauf von Klopapier, was mich an unsere Situation hier erinnert. Insgeheim mache ich mir ziemliche Sorgen um die dortige Gesundheitsversorgung.

Spät am Abend erzählt mir mein Mann noch wie er und sein Modellbauverein einen Teil ihrer Vereinskasse an ihre Vereinsgaststätte spenden wollen, um sie zu retten. Ich bin gerührt von dieser Idee!

Mir schwirrt immer noch die Diskussion mit meiner Mutter im Kopf herum, um den Besuch der Freundin. Ich habe noch nicht abgesagt. Es wird eine ungemütliche Nacht werden.

 

Corona-Tagebuch vom 20.3.20

Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen und die ganze Zeit über das Gefahrenpotential des Besuches der Freundin gegrübelt. Um 5 Uhr morgens stehe ich dann auf und sage das Treffen schlussendlich ab. Gemeinsam mit meinem Mann, der auch wach ist, beschließen wir ab sofort auch unsere Tochter nicht mehr zu den Großeltern bringen zu wollen, aus Gesundheitsgründen. Außerdem beschließen wir in den nächsten Tagen und Wochen zusammenzuhalten zu wollen, noch mehr als sonst!

Nach unserem Gespräch beschließt auch mein Mann eine wichtige Geschäftsfahrt nach Würzburg nicht mehr zu unternehmen. Später informiere ich meine Mutter darüber, dass wir nicht zu besagtem Besuch fahren werden, aber unsere Tochter sie nun ab sofort trotzdem nicht mehr besuchen wird. Es scheint sich mir ein Wertekonflikt zwischen körperlicher Unversehrtheit und sozialem Kontakt aufzutun. Kurz werde ich traurig; müssen wir uns jetzt quasi schon verabschieden, um dann vielleicht in Wochen und Monaten, wenn wir Glück haben, uns wiederzutreffen? Ist das ein Abschied für immer? In Italien, so lese ich in den Nachrichten, müssen die Menschen alleine sterben und können sich nicht mehr verabschieden. Es gibt nicht mal Beerdigungen.

 

Dieser letzte Tag „in Freiheit“ fühlt sich stressig an.

 

 

Im Laufe des Tages kommt die Nachricht, dass am morgigen Samstag in Bayern Ausgangsbeschränkungen verhängt werden sollen. Panisch schnappe ich mir meine Tochter und wir machen mit dem Auto einen letzten Ausflug in einen großen Park und holen meinen Mann von der Arbeit ab. Wir spazieren wie so viele andere in herrlichstem Frühlingswetter durch den Park und beobachten die anderen Spaziergänger*innen. Jeder achtet darauf niemanden zu nahe zu kommen und Eltern halten ihre Kinder auf Abstand zueinander. Ich bin froh, dass alle sensibilisiert scheinen und wir gemeinsam darauf achten. Kurz kommen mir kurz die Tränen – was für ein kostbares Gut doch die Bewegungsfreiheit ist! Ich beobachte eine Gruppe Jugendlicher, die sich im Park treffen, Musik hören und die Zeit totzuschlagen scheinen, dabei pöbeln sie sich immer wieder gegenseitig an. Am Ende verlassen sie alle laut hustend den Park…

Dieser letzte Tag „in Freiheit“ fühlt sich stressig an; wir überlegen, was wir noch alles brauchen, welche Lebensmittel oder noch Dinge aus dem Baumarkt. Wir beschließen in einen Baumarkt zu fahren, um Blumen für den Balkon zu holen, drehen aber entsetzt um, als wir sehen, dass sich die Schlange einmal quer über den Parkplatz zieht.

 

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, derzeit gelten strenge Ausgangsbeschränkungen. Bleiben Sie zuhause. Der Gang zur Arbeit, zum Arzt oder zum Lebensmitteleinkauf ist weiterhin möglich. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft!

 

 

Corona-Tagebuch vom 21.3.20

Tag 1 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Wir werden am Morgen von einer Lautsprecherdurchsage der Münchner Feuerwehr geweckt, die durch die Straßen fährt und folgendes verkündet:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, derzeit gelten strenge Ausgangsbeschränkungen. Bleiben Sie zuhause. Der Gang zur Arbeit, zum Arzt oder zum Lebensmitteleinkauf ist weiterhin möglich. Zuwiderhandlungen werden hart bestraft!“

Wir sind überrascht und kommen uns angesichts der Wortwahl ein bisschen wie in bürgerkriegsähnlichen Zuständen vor… Trotzdem ist für uns bereits der größte Sturm vorbei und ich fühle mich in der neuen Lebenssituation angekommen. Ich bin entspannt. Die offizielle Ausgangssperre ist da und wir machen es uns gemütlich. Ich würde sagen, wir haben uns installiert und eingerichtet. Uns als Kernfamilie überkam es jetzt auch nicht so plötzlich… Schon seit einigen Wochen sind wir mit dem Virusgeschehen in Kontakt und die fast täglichen Einschränkungen der letzten Tage boten uns Zeit uns schrittweise darauf einzustellen.

Am Frühstückstisch besprechen wir den Tag, was jeder von uns heute erledigen will und wie wir vorgehen wollen. Wir beschließen, dass jeder sich nach dem Frühstück anziehen und Zähne putzen soll, um nicht im Jogginghosen-Einerlei in den nächsten Tagen und Wochen zu versinken. Wir besprechen wann wir auf unseren Balkon gehen und was wir da tun können, denn heute regnet es leider.

Später bei einem Telefonat mit einer Freundin bemerke ich, dass es scheinbar verschiedene Phasen der Realisierung der Krise gibt, die auch andere Menschen zu erleben scheinen.

Die Freundin am Telefon redet hektisch und so schnell wie ich noch vor ein paar Tagen. Alles sprudelt aus hier heraus, sie springt von einem Thema zum nächsten während ihr Baby im Arm quäkt. Währenddessen stehe ich oben am Schlafzimmerfenster und beobachte die Straße und ich bin froh über diesen Aussichtspunkt: Wer bewegt sich noch, ist wie und warum auf der Straße? Früher habe ich die alten Leute immer dafür belächelt stundenlang am Fenster zu stehen und die Aktivitäten anderer zu beobachten. Viele der angesprochen Themen der Freundin habe ich vorher schon mit anderen besprochen; es kommt mir vor wie eine Wiederholung der immer gleichen Aspekte, die wir alle derzeit gemeinsam gleichzeitig erleben. Auch ich trage meine Erkenntnisse vor. Meine Freundin scheint noch in der „Installationsphase“ zu stecken. Sie müsse noch so viele Dinge organisieren und erledigen und habe überhaupt keine freie Minute. So ging es mir vor ein paar Tagen auch noch – ich war ganz hin- und hergerissen zwischen all den Veränderungen. Jetzt aber bin ich entspannt.

Über den Tag hinweg wursteln wir vor uns hin; ich komme zum Arbeiten, unsere Tochter beschäftigt sich selber, mein Mann geht seinem Hobby nach. Wir kochen gemeinsam, schnappen frische Luft auf dem Balkon und genießen die Ruhe. Warum fühle ich mich gerade so wohl? Ist das Abstellen der permanenten Unruhe des sonst ständigen täglichen „Entscheidenmüssens“, wer wie was heute zu tun, zu besuchen, zu erledigen, an Wissen zu erlernen ist? Ich bin froh, dass alle jetzt im gleichen Zustand sind. Ich bin froh über die äußere Ruhe, die auch in meinem Inneren für Ruhe sorgt.

Irgendwann kommen mir dann doch Zweifel an meiner Idylle… Eine ältere Verwandte schickt mir eine Nachricht und fragt sich, ob unser letztes Treffen ein Abschied für immer gewesen sei? Und sie hofft, dass wir uns alle bald wieder sehen. Ich werde traurig und mir kommen die Berichte aus Italien in den Sinn, wo die Menschen alleine sterben müssen und es keine Beerdigungen gibt. Langsam kommen mir Zweifel an der Strategie unsere älteren Verwandten ab sofort nicht mehr besuchen zu wollen… Ist der Schutz der körperlichen Unversehrtheit wirklich den Abbruch des physischen Kontakts wert? Vielleicht werden wir einige von ihnen nicht mehr wiedersehen, wenn sie sich infizieren und nicht mehr im Krankenhaus besucht werden können…

Außerdem wird mir bewusst, was für ein Privileg meine Familie hat. Wir haben keine Geldnot, keine Existenzängste und sind körperlich fit und gesund. Deshalb will ich mich auch ehrenamtlich in den vielen gerade entstehenden Gruppen und Initiativen zur Corona-Hilfe einsetzen. Ich melde mich nach langer Zeit wieder mal bei nebenan.de an und scrolle durch die Gesuche in meiner Nachbarschaft. Statt Anfragen von Menschen, die Unterstützung brauchen, finde ich haufenweise Hilfsangebote. Das erinnert mich an die Willkommenskultur im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015. Ich verlasse nebenan.de und finde noch einen Aushangzettel mit wichtigen Telefonnummern zur Corona-Krise, den ich morgen in unserem Wohnblock aufhängen will.

Später klingelt es an der Tür. Einen kurzen Moment überlege ich wie ich die Tür aufmachen und die Person in Empfang nehmen soll – mit Handschuhen, Mundschutz etc.? Es ist der Paketbote, der das Paket in einigen Meter Entfernung auf den Boden stellt, sein Gerät selbst anklickt und schnell wieder verschwindet. Schnell danke ich ihm noch für seinen Einsatz und er schaut mich an, ich sehe einen kurzer Anflug von Angst in seinen Augen, dann zuckt er mit den Schultern und sag: „Es geht“. Warum hat er nicht Handschuhe und eine Schutzmaske an? Diejenigen, die eh schon immer unterbezahlt und ausgebeutet waren, müssen sich jetzt auch noch einer doppelten Ansteckungsgefahr aussetzen! Und wir haben das Privileg zu Hause zu bleiben und uns alles auf die Couch liefern zu lassen…

Am Nachmittag besuche ich meine Eltern. Sie sind enttäuscht, dass meine Tochter nicht dabei ist. Wir reden über die Arbeit im Garten und die Arbeit meines Vaters, der von einer Krisensitzung zu anderen muss. Er erzählt mir wie bei ihrer Firma im Keller jetzt Mundschutzmasken selbst genäht und Desinfektionsmittel selbst hergestellt werden müssen. Ich bin schockiert…

Am Abend gucken mein Mann und ich uns noch die Heute-Show an. Aber sie hat ihren Reiz total verloren – die Witze im leeren Fernsehstudio ohne Publikum und Applaus sind einfach nicht dasselbe.

 

Corona-Tagebuch vom 22.3.20

Tag 2 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Über Nacht hat es geschneit und es ist bitterkalt draußen. In der Ferne hören wir wieder die Lautsprecheransagen der Feuerwehr, die jetzt in Deutsch und Englisch verkündet werden. Türkisch hätte ich besser gefunden. Ansonsten ist es draußen sehr still.

 

Wer ist wie draußen noch unterwegs?

 

 

Ich checke die Corona-Nachrichten – mehr Infizierte, mehr Fälle. Die Verdopplungszahl ist zu meinem morgendlichen „Anker“ geworden. Es wird dauern, bis die Ausgangssperre Wirkung zeigt. Momentan erleben die Zeitungen und „konservativen“ Nachrichten eine Renaissance. Auch ich überlege mir wieder ein Tageszeitungs-Abo zu bestellen.

Ich checke die Straße vom Fenster aus – wer ist wie draußen noch unterwegs? Die Sonne scheint herrlich und ich frage mich, ob wir auch rausgehen sollen oder aus Solidarität lieber drinnen bleiben.

Wir planen die heutigen Telefonate und Skype-Gespräche. Auch das Telefonieren erlebt eine Renaissance. WhatsApp-Nachrichten reichen einfach für die Fülle an Gesprächsbedarf nicht mehr aus… Mein Mann telefoniert mit einer älteren Verwandten – sie ist ganz verzweifelt und schimpft auf diese „Chinesen-Krankheit“. Er ist empört und weist sie zurecht. Daraufhin fängt sie an zu weinen. Die Nerven bei den Älteren liegen blank. Ich biete ihr an die Einkäufe per Ökokisten-Lieferung vor das Haus liefern zu lassen. Aber sie winkt ab, sie und ihr Mann möchten sich lieber ihre Sachen im Supermarkt selbst aussuchen. Dieses Stück Freiheit wollen sie sich nicht nehmen lassen.

Unsere Haushaltsaufgabenverteilung gestaltet sich überraschenderweise harmonisch zwischen mir und meinem Mann. Wir versuchen Streit so viel wie möglich zu vermeiden. Zusammen an einem Strang ziehen ist jetzt wichtig, schließlich können wir nicht raus und es gibt kein Ventil außerhalb der Wohnung mehr…

Ich arbeite weiter an meiner Doktorarbeit und bin kurz darüber besorgt, dass ich keine Bücher mehr in der Bibliothek ausleihen kann. Ich checke die Staatsbibliothek und bin überwältigt von der Fülle an erweiterten Online-Angeboten von sämtlichen Verlagen und Publikationsdiensten! Am besten gefällt mir der erweiterte Online-Zugang und jetzt mögliche Lieferdienst der Bayerischen Staatsbibliothek.

Der Kindergarten unserer Tochter schickt Bastelanleitungen, Videos von aufgenommen Liedern und Geschichten. Bis jetzt hatten wir noch keine Zeit das alles zu lesen. Wir sind auch so gut beschäftigt. Überhaupt frage ich mich, wer wie das ganze Online-Angebot, was gerade zu Hauf neu aufgelegt wird, nutzen soll? Für mich ist noch kein Freiraum entstanden. Ganz im Gegenteil – durch die ständige Kinderbetreuung habe ich viel weniger Zeit als vorher. Und es ist schon schwieriger auf einen „Online-Termin“ zu bestehen, als einfach weg zu sein, außer Haus…

Meine Schwester ruft an und erkundigt sich wie man Pflanzen selber auf der Fensterbank ziehen kann. Sie möchte dieses Jahr endlich mal ihren Garten nutzen und Gemüse anbauen. Außerdem erzählt sie mir, dass ihr unsere Eltern erzählt haben, dass sich unsere Eltern selbst nicht zur Risikogruppe zählen…

Am Nachmittag wagen wir dann doch einen Spaziergang in einem Park und es ist einiges los. Jeder achtet penibelst auf Abstand und man geht sich aus dem Weg. Erstaunlich viele haben ihre Kapuzen und Schals dicht über das Gesicht gezogen. Mit Mundschutz sehe ich keinen. Beim Thema Mundschutz fällt mir der Post ein, den ich bei Facebook gesehen habe: Es werden Näher*innen gesucht, die für Krankenhäuser in der Nähe Atemschutzmasken aus Stoff nach Nähanleitung nähen. Eine tolle solidarische Aktion, aber auch traurig… Soweit ist es schon gekommen, dass unsere Krankenhäuser selbstgenähten Mundschutz brauchen. Gruselig…

Bei unserem Spaziergang sehen wir keinen Laden, auch keinen Supermarkt, der heute am Sonntag geöffnet hätte. Stattdessen sind die Schaufenster mit Zetteln und Hinweisschildern mit Infos über die momentanen Einkaufsregeln und zulässigen Einkaufsmengen zugeklebt.

Mein Mann widmet sich seinem Modellbau zusammen mit unserer Tochter – passenderweise bauen sie ein Modell der Stadt Tschernobyl nach der Atomkatastrophe nach. Mir kam der Tschernobyl-Vergleich auch schon. Schließlich war es das letzte Ereignis dieser Größenordnung, dass halb Europa betroffen hat und es ging auch um eine gesundheitliche Bedrohung. Meine Eltern meinten dazu, dass damals auch eine beklemmende Atmosphäre geherrscht habe, es aber trotzdem anders war. Es kam alles viel plötzlicher, da die Sowjetunion die Informationen über den radioaktiven Atomunfall sehr lange zurückgehalten hatte. Außerdem gab es damals viel weniger Informationen über die schädlichen Auswirkungen, als das heute in Zeiten des Internets der Fall sei. Damals seien gerade die Schwangeren betroffen gewesen, da man nicht wusste, ob man lieber abtreiben solle…

Später am Abend folgen noch viele Telefonate mit Familie und Freunden. Alle haben Gesprächsbedarf und berichten von den Veränderungen und Einschränkungen in ihren Leben. Ein Freund fragt sich wie er mit zwei kleinen Kindern seinen bevorstehenden Umzug organisieren soll, eine Freundin arbeitet in einem Museum und überlegt welche Apps und Online-Angebote das Museum jetzt anbieten könne. Außerdem will sie sich ehrenamtlich engagieren. Uns wird klar wie privilegiert wir sind und die Corona-Krise zwar Veränderungen in unserem Alltag nach sich zieht, aber wir davon nicht in unserer Existenz bedroht sind.

 

Corona-Tagebuch vom 23.3.20

Tag 3 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern und der Beginn einer neuen Arbeitswoche, aber es fühlt sich an wie ein seltsamer Zwischenzustand – nicht wirklich wie Wochenende, aber auch nicht wirklich wie ein normaler Werktag. Vielleicht liegt es auch daran, dass mein Mann ungewohnt spät aufsteht und noch mit uns frühstückt, was er sonst nie macht, aber es ist momentan einfach nicht genug Arbeit im Betrieb vorhanden.

Ab heute besteht das sogenannte „Kontaktverbot“, d.h. dass sich nicht mehr als zwei Personen im öffentlichen Raum treffen dürfen. Für uns als Familie ist das nicht wesentlich einschränkend, aber so allgemein ist es schon eine Art Versammlungsverbot ad absurdum. Dazu lese ich einige Artikel darüber wie sehr damit unsere Grundrechte eingeschränkt wurden und wie wenig Menschen sich dagegen in der Öffentlichkeit gewehrt haben. Man stelle sich nur vor eine AfD wäre während einer solchen Pandemie an der Regierung gewesen…

Ich lese mich in meinem Home Office den ganzen Morgen viele weitere kritische Artikeln zur aktuellen Lage und schaue einen der zahlreichen Online-Summits über Klima- und Systemwandel an. Für was wird jetzt alles der Weg geebnet und was wird plötzlich zusammen gehen, was vorher undenkbar war? Was können neue (noch fast unvorstellbare) Visionen für eine Welt nach der Pandemie sein?

Währenddessen sitzt meine Tochter wieder eine Zeit lang vor dem Fernseher, was nicht sehr zukunftsweisend ist der Sendung mit der Maus zum Trotz, die gerade täglich gezeigt wird.

Ich lasse den PC jetzt immer im Stand-by-Modus, damit ich zwischendurch an meiner Forschung arbeiten kann. Jede freie Minute, wo sich das Kind selbst beschäftigt ist kostbar und ich bin erstaunlich diszipliniert. Die Aufregung, um die Veränderung der letzten Tage hat sich gelegt… mir dämmert, dass es bald ums Durchhalten gehen wird und um die bange Frage, ob die uns auferlegten Maßnahmen reichen werden, um keine Katastrophe im Gesundheitswesen zu provozieren. Gibt es dafür eigentlich keinen Begriff? So was wie „Seuchen-GAU“ oder so ähnlich?

 

Alle sind im Krisenmodus… Kein Lebensbereich ist davon nicht betroffen!

 

 

Außerdem bekomme ich noch zahlreiche Mails mit Corona-Nachrichten von den ganzen Vereinen und Gruppen in welchen ich Mitglied bin. Mitgliedsbeiträge sollen jetzt bitte nicht storniert werden; es werden Sorgen über fehlende Referentenhonorare geteilt; Online-Angebot erstellt und vage Pläne geschmiedet für die Zeit nach Corona. Alle sind im Krisenmodus… Kein Lebensbereich ist davon nicht betroffen!

Mich erreichen auch Hilfegesuche von Initiativen, Online-Shops, kleinen Läden, die jetzt schon um ihre Existenz ringen – alle bitten um Unterstützung, den Kauf von Gutscheinen oder Spenden. Aber es sind so viele, dass ich gar nicht weiß, wen man letztendlich unterstützen soll… Alle sind wichtig und gut und ich habe sie vor Corona geschätzt, aber was davon werden wir danach noch wirklich brauchen? Außerdem stellt sich auch in meiner Familie die Geldfrage – noch ist mein Mann nicht in Kurzarbeit. Aber werden wir auch mit Kurzarbeitergeld noch um die Runden kommen? Zumindest unsere Konsumausgaben haben sich seit dem Lockdown radikal verringert…

 

Die Frage nach der Lage verkneife ich mir…

 

 

Ich entscheide mich für eine Spende für ein Corona-Buch für Kinder, dass gerade von einer freien Illustratorin online veröffentlich wurde. Jeden Tag gibt es eine neue Seite der fortlaufenden Geschichte und Vorlagen zum Ausmalen. Wir reden über Corona und meine Tochter erklärt mir danach ganz besorgt, dass sie nicht möchte, dass ich heute Einkaufen gehe.

Am Nachmittag beobachten wir meine Eltern beim Arbeiten im Garten. Wir winken vom Balkon aus und reden kurz. Die Frage nach der Lage verkneife ich mir…

Am Abend diskutieren mein Mann und ich über das neue, seltsame Gefühl sich jetzt im öffentlichen Raum zu bewegen. Wir sind uns einig, dass draußen eine eigenartige und sehr bedrückende Atmosphäre herrscht. Eine Atmosphäre, die stresst und erschöpft.

 

Corona-Tagebuch vom 24.3.20

Tag 4 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Heute Morgen stand ich am Balkon und es überkam mich ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Isolation. Es herrschte eine gespenstische Stille wie an einem Sonntagmorgen, dabei war es erst Dienstag. Obwohl die ganze Nachbarschaft und das ganze Land ja irgendwie alle davon betroffen sind und in der gleichen Situation stecken, war es ein untröstlich einsamer Zustand. Die Stadt schien an Lebenskraft verloren zu haben. Und das ist erst der Beginn… Nach der Aufregung und Verwirrung, kamen eine angenehme Ruhe und jetzt also das Gefühl von Einsamkeit.

Heute setzte ich einige neue Ideen für das „disziplinierte Home-Office“ um, warf mich in meine Bürokleidung und meine Tochter ins Kindergartenoutfit und erklärte ihr nochmal die Situation: Ich gehe zur Arbeit ins Schlafzimmer an meinen Schreibtisch und sie wie in den Kindergarten in ihr Spielzimmer. Für eine Stunde klappte das gut.

Ich habe seit Tagen Rückenschmerzen und überlege, ob ich zum Orthopäden gehen soll. Ich stelle folgende Überlegungen an: Ich frage mich, ob meine Schmerzen wirklich so schlimm sind, als das ich es wagen könnte, da der Orthopäde sich einem großen Ärztehaus mit HNO-, Allgemein- und Kinderärzten befindet. Ist eine Arztpraxis neben der Notaufnahme im Krankenhaus nicht der Hauptinfektionsort schlechthin derzeit? Andererseits wäre es nicht besser lieber jetzt noch zum Arzt zu gehen, als nächste Woche, wo die Lage aufgrund gestiegener Fallzahlen noch gefährlicher sein könnte?  Ich entscheide mich dagegen – das Risiko ist mir zu groß und die Schmerzen sind nicht schlimm genug.

Mein Mann ruft aus der Arbeit an und erzählt mir von dem Beschluss jetzt einen Lieferdienst für seine Produkte anzubieten, um nicht einen Totalausfall zu erleben. Im ersten Moment finde ich die Idee toll, im zweiten Moment mache ich mir Sorgen, dass er sich dadurch einem größeren Ansteckungsrisiko aussetzt… Bereits am Abend kann er sich nach der Bekanntgabe vor Online-Bestellungen nicht retten und wird morgen mit den Auslieferungen beginnen.

Verrückterweise trudeln immer noch Geburtstagsglückwünsche von lange verschwunden geglaubten Menschen ein, obwohl ich schon vor einer Woche Geburtstag hatte.

Am Nachmittag besuchen meine Tochter und ich meine Mutter im Garten. Eigentlich wollte ich durch diese Maßnahme besser Abstand halten können und unser tägliches Bewegungspensum erfüllen. Wir unterhalten uns in mehreren Metern Entfernung im Garten. Irgendwann wird es meiner Mutter zu kühl und sie lädt uns zu einer Tasse Tee ein. Ich zögere… Wieder kommt mir der Wertekonflikt in den Sinn: Körperliche Unversehrtheit gegen Social Distancing. Ich nehme die Einladung an. Wir sitzen weiter entfernt als üblich am Tisch und unterhalten uns über unseren neuen Alltag. Es fällt meiner Mutter schwer Abstand von ihrer Enkeltochter zu halten. Sie hat sogar extra Eis für sie gekauft. Immer wieder muss ich dazwischen gehen und einen zu engen Kontakt vermeiden. Sie erzählt mir, dass sie heute beim Arzt war und in der Apotheke. Bei mir klingen die Alarmglocken – ausgerechnet an den Orten, die ich für mich persönlich zu den Hochrisikozonen zähle. Ich biete ihr wieder an für sie Medikamente zu kaufen und andere Dinge zu erledigen. Das will sie sich aber nicht nehmen lassen… Ich frage sie, wen sie noch so trifft und sie erzählt mir davon ihre Damen-Schach-Runde nun doch absagen zu wollen. Ich gucke sie mit großen Augen an – erst jetzt?! Sie scheint es erst langsam zu realisieren. Außerdem bemerkt sie noch nebenbei fast als Entschuldigung, dass Tschernobyl damals schlimmer gewesen sei…

Am frühen Abend fahre ich noch mit dem Auto zur Apotheke an den Drive-In-Schalter, um unseren Medikamentenhaushalt aufzufüllen. Alles verläuft kontaktlos.

Danach fahre ich mit dem Fahrrad zum Einkaufen in einen der umliegenden Supermärkte, um dem Umgang mit dem Virus zu vergleichen. Der EWE-Markt scheint völlig unbeeindruckt zu sein – gut der Eingang und Ausgang wurden voneinander getrennt und ein Schild weist auf die 1,5-Meter-Abstandregel beim Anstellen an der Kasse hin. Sonst ist nichts von Hamsterkäufen, Angst vor Ansteckung oder kontaktlosen Zahlen in diesem Laden zu spüren… Ich bin irritiert. Auch sehe ich hier niemanden mit Handschuhen oder Atemschutzmaske. Nur ich lasse meine Wollhandschuhe an als ich nach dem Einkaufskorb greife, schließlich ist es draußen kalt… Hier drinnen scheint Corona noch nicht wirklich angekommen zu sein.

Am späten Abend rufen meine Eltern an, denn sie wollen uns einige Atemschutzmasken übergeben. Ich schaue vorbei und lehne dankend ab. Vor mir liegen vier bunte selbstgenähte Stoffmasken. In der Arbeit meines Vaters hat eine Nähwerkstatt für Atemschutzmasken aus Stoffresten eröffnet. Ich sage nichts zu den Masken und denke mir meinen Teil über die fragwürdige Sicherheit. Dabei denke ich an unsere Masken, die wir schon vor vier Wochen bei einem Spezialhändler bestellt haben. Sie haben jeweils über 50 Euro gekostet und entsprechen der FFP3-Norm! Aber ich will meinen Eltern ihre Stoffmasken als psychologische Stütze nicht nehmen. Ernsthaft frage ich mich, ob sie diese Stoffmasken wirklich tragen wollen. Ich verabschiede mich, während mein Vater auf der Couch liegt und schläft. Blass sieht er aus – er hatte heute noch einen Arbeitstermin mit Kolleg*innen. Ich frage meine Mutter, ob er sich nur ausruhe oder krank sei?

Mein Mann führt jetzt auch ein Tagebuch und stellt jeden Abend mathematische Berechnungen mit den neuen Corona-Fallzahlen an.

 

Corona-Tagebuch vom 25.3.20

Tag 5 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Der Tagesrhythmus unserer Familie scheint sich einem Idealzustand anzunähern. Wir sind eine Familie von Nachteulen – gehen spät ins Bett, aber schlafen dafür länger. Zu normalen Zeiten stehen wir immer unter Zeitdruck und leiden an Schlafmangel. Aber nun ist es ideal! Wir können unserem eigenen Rhythmus folgen.

 

Es scheint alles in Ordnung zu sein auf den ersten Blick nach draußen, aber der Eindruck täuscht….

 

 

Am Frühstückstisch reden wir mit unserer Tochter über die „Corona-Ferien“, wie sie bei uns heißen. Offiziell haben wir ihr verkündet, dass nach Ostern der Kindergarten wieder weitergeht. Insgeheim aber rechnen wir eher mit dem Sommerfest oder St. Martin, bis wieder alles normal läuft. Aber wir wollen sie nicht noch mehr beunruhigen…

Es scheint heute tollstes Wetter zu sein, die Sonne scheint in den herrlichsten Farben – aber es ist bitterkalt und windig. Das Wetter erinnert mich an die derzeitige Krise – es scheint alles in Ordnung zu sein auf den ersten Blick nach draußen, aber der Eindruck täuscht….

Heute ist mein Mann zu Hause und hat nur Telefondienst für seine Werkstatt. Seine Lieferdienst-Idee scheint zu fruchten und er erhält zahlreiche Anrufe und Bestellungen von Leuten, die gerne seine Produkte haben möchten. Kurz haben sie dort überlegt die Produktion auf Desinfektionsmittel umzustellen.

Auch ich möchte etwas beitragen und mich ehrenamtlich engagieren. Ich durchstöbere die Vorschläge einer großen Tageszeitung – von Telefonieren mit alleinstehenden Senior*innen, über Erntehilfe, Nachbarschaftshilfe, im Krankenhaus aushelfen bis hin zu Maskennähen gibt es viele Möglichkeiten. Doch über allem schwebt die Frage bzw. die Tatsache, dass ich mit vier Familienangehörigen über 70 in einem Haus lebe. Wenn, dann muss ich ja für diese Einkaufen bzw. für sie sorgen… Momentan versorgen sie sich alle noch selbst, aber in den nächsten Tagen und Wochen kann immer noch mein Einsatz kommen.

Endlich habe ich heute länger Zeit mich meinem Home-Office zu widmen, da mein Mann auf unsere Tochter aufpasst. Er will mit ihr rausgehen, aber sie will partout nicht. Sie hat Angst rauszugehen, weil ja Corona auf sie hüpfen könnte. Der Preis, sie doch noch nach draußen zu bekommen, ist hoch und kostet zwei Donuts! Weiter im Home-Office erstelle ich eine lose Liste mit Dingen, die ich schon immer mal ausprobieren wollte bzw. die wir in den nächsten Wochen in der Wohnung erledigen könnten.

Später ruft ein Bruder meines Mannes aus dem größten Supermarkt in München an und fragt, ob wir noch Klopapier brauchen? Aber wir sind mit drei Packungen gut ausgestattet!

Am Nachmittag telefoniere ich mit einer Freundin. Wir reden über dies und das – Gemüseanbau auf dem Balkon und dass keiner bisher den Landwirt*innen und Lebensmittel-produzent*innen dankt für ihre Arbeit. Danach gehe ich auf den Balkon und arbeite weiter an unseren Hochbeeten. Ich versuche noch etwas Sonne abzubekommen, aber es ist bitterkalt. Ich überlege ab morgen Vitamin D3 zu nehmen, damit der Lichtmangel mir nicht zu sehr zusetzt…

Am Abend rätseln mein Mann und ich noch über das Verhalten unserer Eltern in punkto Schutzmasken. Wir haben unsere Eltern schon früh zu Beginn der Krise mit professionellen Atemschutzmasken ausgestattet. Stattdessen zählen meine Eltern lieber auf selbstgenähte Stoffmasken und die Eltern meines Mannes lassen sich von einem anderen Sohn OP-Masken zuschicken. Unsere sind ihnen anscheinend peinlich oder zu martialisch… Jedenfalls erinnert mich ihr Verhalten an meine Großeltern zu Tschernobyl-Zeiten, als diese das im Garten angebaute Gemüse weiterhin ohne Bedenken aßen wie meine Eltern erzählten.

Danach streiten wir uns über Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus. Ich erzähle ihm wie ich jeden Tag das Ansteigen der Verdopplungszahl der Neuinfektionen in der Tabelle einer Tageszeitung checke… Für mich ist diese Zahl ein positiver Anker und ein kleiner Erfolg – für meinen Mann der totale Quatsch, da diese Zahl keinerlei Entwarnung gebe…

 

Corona-Tagebuch vom 26.3.20

Tag 6 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Ich habe heute schlecht geschlafen und von Fledermäusen und gesichtslosen Menschen in weißen Schutzanzügen geträumt. Vielleicht lag es daran, dass ich mir noch bis spät in die Nacht hinein eine tolle alte Doku von Arte zum Thema „Ansteckungsgefahr! Epidemien auf dem Vormarsch (Wiederholung von 2014)“[1] angeschaut habe. Dort hat man so eine Pandemie bereits vorhergesehen…

Am Frühstückstisch (wir sind zu zweit) spricht meine Tochter von sich aus „die Corona“ an. Sie weiß schon einiges darüber, dass die Omas und Opas nicht besucht werden dürfen, dass „die Corona“ (eine Freundin von Karies und Baktus) von einem Mensch zum anderen hüpfen kann usw. Ich bin beeindruckt! Später stellt sie eine Gruppe an Playmobil-Pferden zusammen, von denen jeder von uns eines bekommt, damit wir von „der Corona“ davongaloppieren können. Tolle Idee! Vorher hatten wir schon mit Schutzamuletten experimentiert, aber sie konnten ihre Angst nicht wirklich vertreiben…

Mein Home-Office mit Kind ist heute glorreich gescheitert zwischen Schreikrämpfen, schlechtem Gewissen gegenüber dem Fernsehmarathon des Kindes und meiner zu geringen Selbstdisziplin auf Knopfdruck für eine Stunde produktiv zu sein! Es war schrecklich und wirklich zum Kotzen! Ich sah die Arbeit an meiner Forschung noch Jahrzehnte dauern, wenn es in diesem Tempo weitergehen sollte… Zum Glück hatte ich am Nachmittag nochmal einen Arbeitsslot, nachdem mein Mann nach der Arbeit die Betreuung übernahm. Allerdings muss ich mir trotzdem eine andere Methode einfallen lassen zusammen mit der Tochter im Home-Office zu arbeiten…

Für alle schien dieser Tag ein Durchhänger zu sein… Ich war gestresst, mein Mann war geschafft von den vielen Lieferausfahrten (es boomt!) und unsere Tochter hangelte sich von einem Wutausbruch zum nächsten.

Mir begegnete heute wieder das Thema Stoffmasken… Jetzt weiß ich auch, warum plötzlich alle darüber reden. Der Virologe Christian Drosten hatte in seinem Podcast[2] dazu aufgerufen, zumindest Stoffmasken zu tragen, um beim Aufenthalt draußen andere vor einer möglichen eignen Infektion zu schützen.

Eine Gruppe von Freunden aus meinem Feldforschungsort hat eine Facebook-Seite eingerichtet, um die Infos und Schutzmaßnahmen in der Bevölkerung zu verbreiten. Wo bei uns vor allem die Regierung und Mediziner*innen die Bevölkerung aufklären, sind es in diesem Land vor allem die Zivilbevölkerung und Menschen aus der Diaspora, die das übernehmen.

Am Nachmittag mache ich wieder eine Einkaufsfahrt mit dem Rad. Davor besuche ich meine Eltern und frage sie, ob ich ihnen etwas mitbringen kann, aber sie haben sich schon selbst versorgt. Wir reden über den gut laufenden Lieferservice meines Mannes und über meine Tante, die an vielen Vorerkrankungen leidet und, da sind wir uns einig, Corona nicht überleben würde, würde sie es bekommen. Trotzdem geht ihr Mann immer noch jeden Tag raus zum Spazieren und Einkaufen. Was soll ich sagen? Irgendwo ist dann in unserem individualistischen Land doch jeder für sich und seine Gesundheit selbst verantwortlich…

Sorgfältig habe ich mir die letzten zwei Tage überlegt, was ich heute alles besorgen will. Eigentlich müsste ich nicht einkaufen gehen, da wir unser Essen, wie schon seit einigen Jahren, per Ökokiste vors Haus geliefert bekommen – also schon immer kontaktlos. Ein wahrer Segen in diesen Zeiten (sie nehmen wegen Überlastung auch keine Neukunden mehr auf…), aber trotzdem will ich einkaufen gehen, um raus zu kommen und andere Menschen zu sehen. Schließlich arbeite ich ja nicht mal „draußen“…

Ich fahre mit dem Rad in ein kleines Einkaufszentrum in der Nähe, nehme aber einen Umweg, um länger draußen sein zu können. Außerdem werfe ich noch unsere Briefwahl-Umschläge für die Stichwahl der Oberbürgermeisterin bzw. des Oberbürgermeisters in München ein. Erstaunlich – zum ersten Mal haben 1,1 Millionen Stimmberechtiget automatisch per Post die Briefwahlunterlagen bekommen. Man kann in diesem Fall nur Briefwahl machen. Also auch in so schwerfälligen deutschen Behörden kann sich was bewegen.

Beim Einkaufen ist einiges los – der Biomarkt lässt nur 20 Personen gleichzeitig in den Markt, was immer noch sehr viel ist. Es scheint alles zu geben. Der Buchladen macht jetzt kostenfreie Heimlieferdienste, die Pizzeria liefert nur noch Pizza nach Hause, die MD-Drogerie will kontaktloses Zahlen und verbietet Hamsterkäufe usw. Sonst scheint alles normal zu sein, außer dass die vielen anderen Geschäfte geschlossen sind. Überall hängen Zettel mit Hilfsangeboten für Senior*innen und einsame Menschen. Aber trotzdem scheinen immer noch sehr viele alte Menschen draußen unterwegs zu sein; auch augenscheinlich eingeschränkte Personen (wie mit Rollstuhl) sind unterwegs.

 

Corona-Tagebuch vom 27.3.20

Tag 7 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Die Sonne scheint – wie herrlich und ich freue mich auf einen Tag auf dem Balkon.

Nach reiflicher Überlegung gehe ich ein, schon lange bestehendes, persönliches Problem an und telefoniere mit einer Therapeutin in Bremen, die Telefontherapie anbietet. Ich habe das Gefühl, dass jetzt der richtige ruhige Augenblick dafür ist, um dieses Thema anzugehen. Im Hintergrund meldet meine Tochter ihre Bedürfnisse an, aber die Therapeutin hat Verständnis dafür und meint, so gehe es im Moment gerade allen…

Später im Home-Office kommen mir wahllos verschiedenste Nachrichten und Angebote unter, die jetzt neu sind. Die Krankenkasse schreibt, dass jetzt endlich alles nur noch per App erledigt werden kann. Ich bekomme Werbung für Ärzte, die jetzt Online-Sprechstunden anbieten. ADIL-Talk schenkt einem zusätzliches kostenloses Datenvolumen in Corona-Zeiten. Ich kaufe einen Gutschein für ein von Geflüchteten betriebenes Café um die Ecke, damit es nicht schließen muss. Außerdem schreibe ich meiner Physiotherapeutin wegen einer liegengebliebenen Rechnung und erkundige mich nebenbei, ob ihre Praxis noch geöffnet hat. Die Leitung des Kindergartens wiederum bedankt sich für das große Engagement und den Austausch der Eltern auf der gemeinsamen Online-Plattform. Ich habe den Eindruck, hier entsteht ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Zusätzlich lese ich überall von Online-Kursen, Online-Veranstaltungen, Online-Aufführungen und Online-Konzerten – aber ich hatte bisher noch keine Zeit das alles zu nutzen. Danach klicke ich mich durch zahlreiche Online-Shops, die mit extra Rabattaktionen und Gutscheinen locken – tatsächlich bestellen wir jetzt viel um uns die Wartezeit zu vertreiben. Ein letzter Rest unserer hedonistischen Freiheit!

 

Gerade bei den alten Menschen kommen jetzt viele existentielle Fragen hoch.

 

 

Am Nachmittag gehen meine Tochter und ich auf den Balkon und treffen am Zaun meine Tante. Mit einigen Metern Abstand reden wir über die momentane Situation… Es ist ein schweres Gespräch über das Altern, das gelebte Leben und den Tod. Ich kann ihr keine Hoffnung machen über die Entwicklung der momentanen Lage, aber zuhören. Gerade bei den alten Menschen kommen jetzt viele existentielle Fragen hoch. Wie haben wir gelebt, was bleibt von uns übrig, wer erinnert sich an uns, werden wir das überleben? Aber bin ich die richtige Ansprechpartnerin für das Sterben? Ich bin auch geschockt, dass scheinbar erst dieses Ereignis die alten Menschen in unserer Gesellschaft zum Nachdenken über den Tod bringt… Und ist nicht das Kontaktverbot eine letzte Konsequenz von einem eh schon andauernden Prozess der Verlagerung des Altwerdens ins Pflegeheim in unserer Gesellschaft? Jetzt wo so viele Unterstützung und Gemeinschaft bräuchten, will man ihre es schon alten Körper noch mehr schützen vor der Gemeinschaft? Aber was bleibt am Ende? Ein einsamer Tod…

Später ruft mich meine Mutter an und will wissen, wie es meiner Tante geht, da sie uns am Balkon gesehen hat. Ich berichte ihr wie sehr sie die Situation psychisch mitnimmt… Außerdem will meine Mutter wissen, ob mein Onkel immer noch zum Einkaufen das Haus verlässt, obwohl sie doch schon so oft auf ihn eingeredet hat…  Dann frägt sie mich, wie es uns geht. Mir fällt dazu nur die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ein… und dass die Tage so schnell vergehen…

 

Ob das die ersten Corona-Symptome sind?

 

 

Corona-Tagebuch vom 28.3.20

Tag 8 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Herrliches Wetter, aber ich wache mit Hals- und Kopfschmerzen auf. Eine Zeitlang bin ich besorgt, ob das die ersten Corona-Symptome sind? Dann aber gehe ich auf den Balkon und sehe, dass die Birken zum Blühen angefangen haben und schiebe die Symptome auf meine Heuschnupfenallergie.

Am Vormittag probieren wir ein extra „Kindergespräch“ auf Skype mit einer befreundeten Familie und deren Kindern aus. Die Kinder kommen nicht wirklich viel zum Reden, weil wir Erwachsene uns so viel zu erzählen haben… Irgendwie müssen wir das trennen, damit die Kinder auch was davon haben. Ich bin erstaunt wie „mobil“ und unterwegs diese Freunde noch sind und frage mich insgeheim, ob wir es nicht mit der Ausgangssperre etwas übertreiben?

Das bestärkt mich darin nach dem Mittagessen einen kleinen Ausflug mit meinem Mann und meiner Tochter zu machen. Aber es kommt zum Streit… Meine Tochter will nicht rausgehen und mein Mann hat Angst, dass uns die Polizei kontrollieren könnte und wir doch auch aus Solidarität mit unseren Mitmenschen zu Hause bleiben sollten. Ich finde, ich habe die ganze Woche genug Solidarität geleistet und war nur zwei Mal mit dem Rade für eine Stunde beim Einkaufen – den Rest der Zeit haben wir in der Wohnung und auf dem Balkon verbracht… Mein Mann ist da anderer Ansicht, aber wir fahren trotzdem los. Ich habe einen versteckten Wald in unserer Nähe ausgesucht. Allerdings sind wir tatsächlich nicht alleine – viele Familien, Radfahrer und Menschen mit Hund sind unterwegs – so voll war es hier noch nie… Trotzdem finden wir ein ruhiges Plätzchen im Wald und genießen die Ruhe und den Geruch des Waldes im Frühling. Unsere Tochter zieht uns mit in ihr Spiel und wir vergessen ganz in welcher Sondersituation wir uns eigentlich befinden. Erst als uns jemand auf einem schmalen Pfad begegnet und dabei augenblicklich zwei Meter ins Gebüsch springt, wird uns wieder bewusst das etwas anders ist als sonst. Erst bin ich schockiert, was der Mann zu bemerken scheint – schnell wünscht er uns noch einen schönen Tag, als ob er sein Verhalten damit entschuldigen wollte.

Am Nachmittag checke ich kurz die Nachrichten und streife eine Dokumentation über die Lage in Italien, genauer gesagt in Bergamo. Die Bilder erscheinen mir wie aus einem schlechten Science-Fiction Film zu sein… Unfassbar! Ob es bei uns auch so weit kommen wird?

Ich erfahre, dass eine alte Bekannte aus Bali nach einigen Jahren Auslandsaufenthalt wieder zurück nach München gekehrt ist, weil sie sich hier sicherer und medizinisch besser aufgehoben fühlt.

Am Abend erstelle ich eine Liste mit Dingen, die wir für die nächsten Wochen über Ostern brauchen werden und bestelle sie online. Ich lese von zahlreichen Promis, die mit dem Virus infiziert sind und klicke mich wahllos durch zahlreiche neuen Online-Kurse und Veranstaltungen… Ein Wirrwarr an Formaten und Angeboten… Alles erscheint mir überstürzt und irgendwie undurchdacht…

 

Corona-Tagebuch vom 29.3.20

Tag 9 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Die Zeitumstellung heute war seltsam, da sie ja normalerweise immer das „normale“ Alltagsleben durcheinandergebracht hat, aber heute hätten wir sie fast vergessen…

 

Die soziale Kontrolle in unserem Haus hat seit Covid-19 zugenommen und alle werden irgendwie beobachtet…

 

 

Ich bin heute Morgen wieder mit einem Kratzen im Hals aufgewacht… Es kamen bis jetzt keine weiteren Symptome hinzu. Ich denke es ist meine Allergie. Ich mache mir Sorgen, weil ich vorher einem Nachbarn zufällig im Hausgang davon erzählt habe und er ein ziemliches Plappermaul ist… Die soziale Kontrolle in unserem Haus hat seit Covid-19 zugenommen und alle werden irgendwie beobachtet…

Im Laufe des Tages haben zahlreiche Verwandte und Freunde per Skype angerufen. Irgendwann war es mir dann zu viel, schließlich hatten wir davor auch nicht jedes Wochenende Kontakt… Und es dreht sich gerade eh nur um ein Thema und das ist wie die ständige Nachrichtenberieselung auch anstrengend! Da braucht man auch wieder mal eine Pause davon. Unter der Woche ist viel weniger los; es scheinen also doch noch einige zu arbeiten bzw. im Werktag-Modus zu sein.

Am Nachmittag rufen meine Eltern an und wollen uns zum Waffelessen einladen, aber ich meine verlegen, ich hätte Halsschmerzen und schlage vor es einfach online zu machen. Spaßeshalber sage ich zu meiner Mutter, sie könne doch die Waffeln per Aufzug hochschicken. Und tatsächlich hat sie das dann auch gemacht und die Waffeln kamen per Aufzug. Auch meine Tante und mein Onkel nebenan bekamen einen Teller voll. Wir drei Parteien haben also dann versucht einen Gruppenchat bei Skype zu eröffnen. Ich weiß nicht wie viele elektronische Geräte im Spiel waren – Laptops, Tablets, Handys und Telefone… Nach einer ungefähr 45-minütigen Installationszeit hat es dann geklappt und da saßen wir nun alle bei Waffeln und Kaffee zusammen und haben ein Kaffeekränzchen abgehalten. Es war köstlich, bedenkt man, dass uns alle eigentlich nur einige Wände trennen. Es ging recht wenig um Corona, mehr darum, was gerade im Haus alles noch repariert werden muss und welche Mieter*innen nicht der Hausordnung folgen. Da scheint mir ein großes Bedürfnis nach Ordnung und Struktur da zu sein! Während dieses Skypetreffens rief unsere Tochter immer wieder im Hintergrund voller Freude „coronafrei“.

 

Aus kulturtheoretischer Sicht würde ich sagen, wir sahen die Welt schon immer aus der VUCA-Perspektive, aber jetzt beginnt der Rest der Welt es auch mitzubekommen.

 

 
Ich frage eine Freundin im Ausland wie es ihr gerade ergeht, da sie noch striktere Ausgangssperren haben als wir. Sie meint, sie habe sich total von außen abgeschottet und lese keine Nachrichten mehr. Stattdessen genieße sie die Ruhe und meditiere viel. Ich frage mich, was die richtige „mentale“ Strategie im Umgang mit der jetzigen Krise ist? Ist eine „Entweder-oder“-Haltung hilfreich, oder stirbt diese gerade und wir üben uns kollektiv im „Sowohl-als-auch“-Zustand? Dabei fällt mir der Hinweis einer Psychiaterin in einer der zahlreichen Corona-Mails ein: Wir sind in der VUCA-Welt[3] angekommen, wobei sich die Abkürzung auf “volatility” (“Volatilität”), “uncertainty” (“Unsicherheit”), “complexity” (“Komplexität”) und “ambiguity” (“Mehrdeutigkeit”) bezieht. Unsere moderne Welt ist von diesen Merkmalen gekennzeichnet und momentan können wir das alle gleichzeitig und gemeinsam spüren. Aus kulturtheoretischer Sicht würde ich sagen, wir sahen die Welt schon immer aus der VUCA-Perspektive, aber jetzt beginnt der Rest der Welt es auch mitzubekommen 🙂

Am Abend mache ich mit meiner Tochter noch „Gute-Abend-Yoga“ und wir lassen den Tag entspannt ausklingen.

 

Corona-Tagebuch vom 30.3.20

Tag 10 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Ich bin heute weiterhin mit Halsschmerzen aufgewacht. Die Nacht war voller Träume über ältere Menschen, die sich verabschieden, weil sie an dem Virus erkrankt sind…

Heute Morgen, hat uns mein Schwiegervater neue OP-Masken im Hausflur übergeben, die ein Bruder, der bei einer Flugzeugfirma arbeitet, dort organisiert hat. Im Gegenzug hat er dafür von meinem Schwiegervater Klopapier zugeschickt bekommen, weil in seiner Stadt alles aus war… Ich checke auch unseren Vorrat, aber bin irritiert, dass keiner darüber redet, dass es keine Flüssigseife mehr zu kaufen gibt. Das finde ich bedenklich und eigentlich viel wichtiger, weil Klopapier wohl nicht vor dem Virus schützt – Händewaschen aber schon!

Meine Tochter schreibt jetzt auch ein Tagebuch, nachdem mein Mann und ich auch Tagebuch über die Corona-Krise schreiben. Auf die Frage, was sie alles reinschreibt, erzählt sie auch von „coronafrei“ und dass wir momentan nicht rausgehen dürfen.

Um 12.30 Uhr hören wir uns die Pressekonferenz[4] der Bayerischen Staatsregierung zur Lage des Bundeslandes an. Es wird also nichts gelockert bis nach den Osterferien…Es wird berichtet, dass sogar Privatkontakte von Politiker*innen genutzt werden müssen, um an Atemschutzmasken zu kommen, weil derzeit Länder wie die USA so aggressiv und zu total überhöhten Preisen die letzten Masken aufkaufen. Ansonsten geht es um einige Landgemeinden, die besonders betroffen sind und Unterstützung bekommen sollen; das Rehakliniken dort notfalls auch die Pflege von Corona-Patienten übernehmen sollen. Außerdem geht es um die Situation in den Bayerischen Flüchtlingsunterkünfte, wo einige schon unter Quarantäne standen, weil Bewohner*innen infiziert waren. Ich bin wütend, dass keiner über die vorher schon prekären Zustände in diesen Einrichtungen spricht, die die Ausbreitung des Virus begünstigten.

Am Nachmittag gehen wir auf den Balkon, pflanzen Blumen und genießen die wenigen Sonnenstrahlen in der Kälte, da es über Nacht wieder geschneit hatte. Mein Mann meinte wir sollen lieber noch eine Runde Gemüsepflanzen ansäen für unseren Balkon, denn man wisse ja nie wie die Versorgungslage sich noch verändern werde…

Danach telefoniere ich mit meiner Schwester, die in einer anderen deutschen Großstadt lebt. Sie kämpft gerade mit dem Home-Office, da ihre Chefin nichts davon hält und auch keine Digitaloffensive starten will. Außerdem hatte sie überlegt doch noch zu uns nach München zu fahren, da sie in ihrer Wohnung einsam sei und nicht wisse was sie die nächsten Wochen über machen solle. Ich rate ihr davon ab jetzt noch zu kommen und dass sie hier bei uns auch nicht mehr Bewegungsfreiheit habe und momentan gar nicht alle Familienmitglieder in unserem Haus besuchen könne. Ende April will sie sich noch einer Zahn-OP unterziehen, auch davon rate ich ihr ab, schließlich haben die Ärzte fast keine Schutzausrüstung mehr und so derart das eigene Immunsystem im Moment zu belasten, halte ich auch für keine gute Idee – auch wenn sie mit unter 30 noch nicht zur Risikogruppe gehört.

Auf einem Bezahlsender sind einige neue Serien herausgekommen, die wir uns am Abend anschauen. Über Corona reden wir heute nicht mehr viel – außer, dass die Zahlen steigen, gibt es nicht viel Neues. Abwarten eben…

 

Corona-Tagebuch vom 31.3.20

Tag 11 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Wieder Halsschmerzen am Morgen, aber keine weiteren Symptome. Ich denke, es sind meine „normalen“ Halsschmerzen, die ich immer während der Heuschnupfenzeit morgens habe. Trotzdem besuchen wir meine Eltern lieber nicht. Stattdessen kommunizieren wir mit ihnen über eine Holzkiste, die aussieht wie eine kleine Schatztruhe. Darin schicken wir Dinge über den Aufzug nach unten, und meine Eltern Dinge, die wir brauchen nach oben. Meine Tochter findet dieses Spiel sehr aufregend.

Am Vormittag ruft mich eine ältere Verwandte aus einem anderen Teil Münchens an. Wir vergleichen die Lage bei uns und bei ihnen, da auch sie zusammen mit ihren Kindern und Enkelkindern in einem Haus wohnen. Tatsächlich sind diese aber schon seit sechs Wochen im „Corona-Modus“, da die eine Enkelin in den Kindergarten mit der ersten coronaerkrankten Erzieherin in München ging. Der andere Enkel in die Schule mit dem ersten erkrankten Lehrer. Für sie ist das ganze Prozedere also schon länger Normalität. Zusätzlich ist auch noch einer der ersten erkrankten und jetzt gestorbenen Patienten in München ein Bekannter von ihnen gewesen und gestern wäre die Beerdigung gewesen… Seltsame Zufälle und wie anders doch die Lage in den anderen Stadtteilen so ist. Wir kennen bisher in München nur über ein paar Ecken erkrankte Menschen.

Später telefoniere ich mit meiner Mutter darüber wie es uns gerade geht. Als ich sie frage, ob sie und mein Vater gut zurechtkommen, erzählt sie ganz erfreut, wie gut die Stimmung bei ihnen sei – wie im Urlaub!

Am Nachmittag bastle ich mit meiner Tochter ein Corona-Monster aus Wolle. Danach beschließen mein Mann, meine Tochter und ich nach draußen zum Einkaufen zu gehen und um frische Luft zu schnappen. Da ich immer noch Halsweh habe, beschließe ich mit einer OP-Maske rauszugehen. Mein Mann und meine Tochter machen mit. Angesichts der „Sterilität“ dieser Masken, wünsche ich mir nun doch die bunten Stoffmasken meiner Eltern… Es ist das erste Mal, dass wir die Masken benutzen und eine wirklich sonderbare Erfahrung… Wir gehen also mit den Masken nach draußen und kommen uns vor wie von einem anderen Stern… Auf dem Weg zum Supermarkt machen die Menschen einen großen Bogen um uns, halten Abstand und wechseln die Straßenseite… Es ist schon merkwürdig, schließlich schützen wir damit die anderen viel mehr als uns selbst.

 

Wir fühlen uns wie Aussätzige […] Noch scheint das in der Bevölkerung nicht angekommen zu sein – zu groß ist die Scham…

 

 

Wir fühlen uns wie Aussätzige, auch wenn ich im Supermarkt, den ich sicherheitshalber lieber alleine betrete, auch andere mit Masken und Schutzhandschuhen treffe. Ich mache die Einkäufe, aber kann schlecht sehen, weil mir die Maske immer über die Augen rutscht. Ich beeile mich, weil mein Mann und mit unserer Tochter vor dem Supermarkt warten. An der Kasse ruft mich mein Mann nervös an, wo ich denn bleibe, denn der Mann von der Security vor dem Supermarkt, hätte ihn schon mehrmals misstrauisch gemustert und angesprochen. Ich packe meine Einkäufe schnell an der Kasse vor einer hohen Plexiglaswand ein. Ein Mann wartet umständlich mit seinem vollgepackten Wagen schräg hinter mir und will partout nicht an mir vorbei…Wieder draußen beeilen wir uns nach Hause zu kommen… Wir treffen unten am Eingang noch meinen Vater, der uns auch entsetzt anschaut… Wir fühlen uns wie Aussätzige, obwohl wir doch mit den Masken gar nicht uns, sondern andere schützen wollen. Noch scheint das in der Bevölkerung nicht angekommen zu sein – zu groß ist die Scham… Aber gerade heute Morgen noch habe ich gelesen, dass in Jena jetzt Maskenpflicht herrscht. Es dauert also noch bis dieses Verhalten sich ändert. Aber ich bin überzeugt, dass spätestens in zwei Wochen Masken zum guten Ton gehören werden…

Nach dem Abendessen passiert plötzlich etwas, was schon seit Monaten nicht mehr der Fall war: Es kommt zum spontanen Familien-Flow! Meine Tochter holt ihre Musikinstrumente und das Liederbuch und wir singen lauthals gemeinsam Kinderlieder. Danach jamme ich mit meiner Flöte vor mich hin und mein Mann macht Sportübungen mit unserer Tochter. Ein Moment tiefer Versunkenheit in dieser seltsamen Zeit…

Später am Abend bringe ich meine Tochter ins Bett – sie bittet mich noch kurz zu warten, da sie gerade Telefonieren mit ihrer besten Kindergartenfreundin spiele und sie sagt zur ihr: „Ich habe jetzt coronafrei und deshalb können wir uns gerade leider nicht treffen!“.

 

Corona-Tagebuch vom 1.4.20

Tag 12 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Ich bin wieder mit Halsschmerzen am Morgen aufgewacht – jetzt auch noch mit verstopften Nebenhöhlen und Kopfschmerzen… Jetzt wo die Sonne scheint, führe ich es aber endgültig auf die beginnende Allergiesaison zurück.

Ich habe heute nicht wirklich die Nachrichten gelesen und fühle mich total uninformiert – es ändert sich doch gerade ständig was! Jetzt werden Masken plötzlich doch für sehr sinnvoll erachtet und immer wieder andere und neue Strategien im Umgang mit dem Virus diskutiert.

Nachdem der Tag mit wenig Telefonaten bzw. Online-Kontakten abläuft, verstärkt sich bei mir das Gefühl abgeschottet und allein in dieser Situation zu sein…

Dafür habe ich viel meditiert und mich auf meine eigenen Themen konzentriert.

Im Home-Office habe ich an einem Schreibprojekt-Treffen mit anderen Wissenschaftler*innen teilgenommen. Es nahmen bestimmt 20 Leute in Zoom daran teil. Los ging es mit einer Aufwärmeinheit und wir stimmten uns gemeinsam tanzend zu einem Lied ein. Es war ein gutes Gefühl und eine Erleichterung so viele andere in der gleichen Situation zu sehen…

Ansonsten verschwimmen die Wochentage langsam… Ich versuchte mir vorzustellen wie es wohl werden wird, wenn die Ausgangsbeschränkungen aufgehoben werden. Ich glaube nicht wirklich, dass es so sein wird wie zuvor… Aber wie wird es dann wohl sein? Nur ein bisschen anders, oder total anders…?

Am späten Nachmittag gehen mein Mann und meine Tochter zum Toben in den Garten meiner Eltern.

Später nach Ladenschluss stehe ich auf dem Balkon und gucke wo überall das Licht in den anderen Wohnungen der umliegenden Häuser an ist und frage mich, was die Bewohner*innen wohl gerade machen?  Denn viel gibt es ja nicht zur Auswahl momentan – außer systemrelevanter Arbeit oder wenigen Familienbesuchen…

Am Abend machen meine Tochter und ich noch zusammen Kinderyoga. Während wir uns entspannen, erzählt mir meine Tochter, dass sie Angst hat, dass wir sterben könnten und deshalb bitte nicht alleine rausgehen sollen…

 

Corona-Tagebuch vom 2.4.20

Tag 12 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Jetzt ist es eindeutig der Heuschnupfen mit dem ich morgens momentan aufwache.

 

Aber uns scheinen die Körper irgendwie seelenlos geworden zu sein […] Dabei geht es uns doch nur darum die Facetten zwischen Leben und Tod sichtbar machen zu wollen.

 

 

Ich skype am Morgen mit einem Freund und wir tauschen uns über die momentane Lage aus. Es geht um die Körper und deren Gesundheit, die derzeit im Fokus stehen. Aber uns scheinen die Körper irgendwie seelenlos geworden zu sein, da sie von allem sozialen, menschlichen Kontakt und Spirituellen abgeschnitten sind. Selbst die Kirchen und andere Gotteshäuser haben geschlossen. Am Ende sterben die Menschen dann alleine im Krankenhaus ohne je wieder ein anderes menschliches Gesicht gesehen zu haben. Wir bestärken uns gegenseitig nicht im derzeitigen allgemeinen Notfallmodus agieren zu wollen, sondern lieber einen kühlen Kopf bewahren zu wollen, um kritisch die Veränderungen beobachten und begleiten zu können. Mit unserer Kritik fühlen wir uns von anderen vor die Wahl gestellt uns zwischen Leben und Tod zu entscheiden. Kritisieren wir die derzeitigen Maßnahmen wird uns unterstellt den Tod billigend in Kauf zu nehmen. Dabei geht es uns doch nur darum die Facetten zwischen Leben und Tod sichtbar machen zu wollen.

Am Nachmittag telefoniere ich mit einer anderen Freundin und genieße es mich während des Telefonierens frei bewegen und entspannen zu können. Sie erzählt mir wie sie und ihre Familie vor sich hinleben und in eine Art natürlichen kreativen Flow gekommen sind. Sie lassen sich von Tag zu Tag dahintreiben und genießen die Tage. Trotzdem erinnere ich sie kurz an die Zustände in anderen Ländern, die ein schlechteres Gesundheitssystem haben als wir…

Auf einmal klingelt es und plötzlich steht meine Mutter vor der Tür… Sie hat Blumen in der Hand und läuft einfach in unsere Wohnung hinein und stellt sie auf den Balkon. Wir sind perplex und auch ein bisschen überrumpelt angesichts der plötzlichen Missachtung der Schutzmaßnahmen. Kurz darauf geht sie wieder.

Die Sonne scheint herrlich und meine Tochter und ich machen eine Radtour mit dem Anhänger in einen nahegelegenen Wald. Es sind für diese Uhrzeit und diesen Wochentag ungewöhnlich viele Leute am Spazieren gehen, Joggen und Radfahren. Auf unserer Tour entdecken wir auf einer Lichtung im Wald zwei junge Männer, die ausgestattet mit Boxhandschuhen gegeneinander boxen. Im Vorhof eines Hauses machen zwei junge Frauen Aerobic zu lauter Musik. Ich fahre mit meiner Tochter zu einer Lichtung mit mehreren Teichen, wo ich selbst als Kind oft gespielt habe. Hier ist niemand zu sehen und wir erkunden die Natur. Wir sammeln Stöcke, Muscheln und beobachten ein Heer an frisch geschlüpften Kaulquappen, die am Ufer um ihr Leben kämpfen. Es erscheint mir wie eine Metapher für die derzeitige Lage zu sein. Ich erkläre ihr: Einige werden es wohl leider nicht schaffen und sterben – aber viele werden überleben und zu Fröschen heranwachsen…

Am Abend gehe ich nochmal auf den Balkon und dort herrscht eine angenehme Ruhe und Stille wie während der langen Sommerferien im August, wenn die Stadt wie ausgestorben erscheint… Obwohl es noch mild und warm ist, scheint keiner auf dem Balkon zu sitzen oder zu grillen. Die Luft ist rein und sauber. Ich erinnere mich das Eichhörnchen, das uns heute am Balkon fast angegriffen hätte und den Vogel, der beim Radfahren fast in uns hineingeflogen wäre. Es scheint mir, als würde die Natur sich wieder ihr Territorium zurückholen und wir sind nun plötzlich die Eindringlinge…

 

Corona-Tagebuch vom 3.4.20

Tag 13 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Die morgendlichen Halsschmerzen gehören mittlerweile schon dazu und beunruhigen mit nicht mehr…

 

Solidarität bedeutet nicht nur den älteren Nachbarn beim Einkaufen zu helfen, sondern ruhig, besonnen, offen und empathisch zu bleiben und nicht in Panik zu geraten.

 

 

Im Home-Office nehme ich wieder an einer Sitzung der Schreib-Community per Zoom teil. Was als Experiment begann, möchten die Veranstalter*innen gerne auf Spendenbasis weiterführen. Es fühlt sich gut an mit so vielen gemeinsam virtuell zu arbeiten.

Ich lese die Rundmail des Präsidenten meiner Universität; er schreibt seit Beginn der Krise in kurzen Abständen zur Lage der Universität. Ich bin fasziniert – es soll eine Art kreatives „Probesemester“ im kommenden Sommer geben, das auf digitale und kreative Lösungen setzt. Alle sind aufgerufen sich mit Ideen einzubringen, nachsichtig zu sein und gemeinsam an der Umsetzung zu arbeiten. Außerdem sichert die Uni zu in allen Bereichen Kulanz walten zu lassen zu wollen. Spannend wie ein zuvor so starrer und hierarchischer Apparat plötzlich viel flexibler und empathischer wird. Und jetzt verstehe ich auch den Solidaritätsbegriff nochmal neu… Solidarität bedeutet nicht nur den älteren Nachbarn beim Einkaufen zu helfen, sondern ruhig, besonnen, offen und empathisch zu bleiben und nicht in Panik zu geraten oder auszuflippen und gemeinsam an undogmatischen kreativen Lösungen zu arbeiten. So gesehen erscheint mir die deutsche Gesellschaft als bisher sehr ruhig (auch sich schon erste soziale Verwerfungen ankündigen), folgsam, aber trotzdem kreativ und weiterhin höflich.

 

Was letzte Woche noch völlig übertrieben erschien, etabliert sich jetzt und ist nun Ausdruck von Solidarität…

 

 

Heute war ich einkaufen in einem kleinen Shoppingcenter in der Nähe. Sorgfältig habe ich mir vorher meine Einkaufsliste auf einem Zettel zusammengestellt. Früher hätte ich das zwischen Tür und Angel gemacht. Ich fahre mit dem Rad zum Einkaufen und beobachte neugierig, ob sich in unserer Nachbarschaft wieder etwas verändert hat. Auf den ersten Blick nichts… Bevor ich das Einkaufszentrum betrete lege ich meine OP-Maske an, die jetzt immer in meiner Jackentasche dabei habe. Ich bin beruhigt – es sind schon einige Leute mehr mit Atemschutzmasken unterwegs als noch beim letzten Mal… Es normalisiert sich langsam und man wird nicht mehr wie eine Aussätzige behandelt. So schnell ändert sich gerade der öffentliche Diskurs: Was letzte Woche noch völlig übertrieben erschien, etabliert sich jetzt und ist nun Ausdruck von Solidarität… Nur mit den Einmalhandschuhen hadere ich noch…

Das Einkaufen bzw. das Shopping-Erlebnis und Stöbern an sich hat auch an Genuss verloren; jetzt scheint es mir nur darum zu gehen die Grundversorgung zu besorgen und schnell wieder nach Hause zu eilen.

Nach dem Einkauf bei den Fahrradständern treffe ich ein älteres Ehepaar – Freunde meiner Eltern. Ich habe immer noch die Maske auf und spreche sie direkt an. Sie erkennen mich nicht gleich und nehmen erstmal Abstand. Die erste Frage von ihrer Seite aus: „Na seid ihr auch alle gesund?“. Ich bejahe und sage unbeholfen, dass ich die Maske nur protektiv trage. Ich merke im Gespräch, dass dieses Paar krisenerprobt ist, denn es hat jahrzehntelang im Ausland gelebt und gearbeitet – immer unter gefährlichen Lebensbedingungen… Aber ich bemerke wie sie die Rollen getauscht haben – sie war immer diejenige, die Probleme hatte sich vor Ort anzupassen während ihr Mann immer wusste wo’s lang geht. Jetzt scheint er nervös zu sein und tänzelt von einem Bein auf das andere, während sie wie ein Fels in der Brandung steht und meint, dass sie das alles für total übertrieben halte.

Ich nehme meine Maske ab und fahre wieder nach Hause. Ich radle an der Post vorbei und bin entsetzt – die Warteschlange schlängelt sich einmal um das ganze Gebäude herum; die Leute stehen dicht und keiner hat einen Mundschutz auf… Wäre das nicht der ideale Zeitpunkt, um die Idee der autonomen Paketstationen wieder zu beleben?

Irgendwann im Laufe des Tages spüre ich plötzlich Zeitnot… nur noch bis 19. April habe ich Zeit neue Dinge in meinem Alltag auszuprobieren und zu ändern, denn nächste Woche ist schon Ostern und obwohl wir niemand besuchen können, ahne ich, dass viele „Ersatzrituale“ stattfinden werden – wie unendliche Skype-Gespräche quer durch die Republik, Basteln für die Verwandtschaft, Briefe verschicken etc. Eigentlich wollte ich doch noch für meine Tochter endlich das Kinderfotoalbum erstellen, das ich schon seit mehr als einem Jahr für sie fertig machen möchte.

Mein Mann erzählt mir nach der Arbeit wie sehr sein Lieferdienst nun brummt und sie schon mehr Umsatz in einer Woche gemacht haben als noch vor dem Virus. Außerdem erzählt er, dass er mehr und mehr zum „Seelsorger“ an der Tür wird und die Leute jetzt plötzlich Zeit zum Reden und Austausch haben.

Später überlege ich mit meiner Tochter auch so einen Regenbogen für das Fenster zu basteln. Solche sieht man jetzt ganz oft an Fenstern in der Nachbarschaft hängen. Sie sind zu einem allgemeinen Zeichen dafür geworden, dass diese Familien mit Kindern zu Hause bleiben.

Heute ist die neue Matratze für unsere Tochter angekommen, die nun endlich alleine in ihrem Zimmer schlafen soll. Ich habe ein gutes Gefühl dabei, dass sie nun bereit dafür ist. Mein Mann findet es total unverantwortlich sie gerade jetzt in diesen unsicheren Zeiten alleine schlafen zu lassen… Wir betten sie trotzdem um und es klappt erstaunlich gut.

 

Der Tod ist das Eine, das Abschiednehmen das Andere.

 

 

Am Abend telefoniere ich mit meiner Tante von nebenan. Sie ruft mich wegen irgendwelcher Vögel an, die jetzt immer zu ihr auf den Balkon kommen… Wir reden über die Selbstreflexion, die diese Zeiten gerade befördern und über ihre über die Jahrzehnte erworbene Erfahrung in diesen Dingen; davon sich in Krisenzeiten zu spüren und treu zu bleiben. Weiter geht es um die Beerdigungen zahlreicher Menschen in ihrem Umkreis; wenige davon wegen Corona – aber allen ist gemeinsam, dass sie momentan nicht zu den Beerdigungen gehen kann, um sich zu verabschieden… Der Tod ist das Eine, das Abschiednehmen das Andere. Dann reden wir noch über die Wichtigkeit von gutem Essen in diesen Zeiten und ich beschließe für den Geburtstag meines Onkels im April eine schöne große Torte zu bestellen; zumindest da, denn richtig feiern und besuchen werden wir uns nicht können.

Am späten Abend beschließe ich das Corona-Tagebuch für heute nicht fertigzustellen. Ich verbringe den Abend lieber mit meinem Mann auf der Couch.

 

Corona-Tagebuch vom 4.4.20

Tag 14 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Ich stehe am Morgen am Balkon und gucke in den Himmel. Plötzlich sehe ich ein Flugzeug! Ein sehr ungewöhnlicher Anblick in diesen Tagen…Normalerweise wohnen wir in der Anflugschneise des Münchner Flughafens, aber seit mehr als zwei Wochen war kein einziges Flugzeug mehr zu sehen. Wer wohl in diesem Flugzeug saß? Vielleicht eine Rückholaktion von Urlaubern aus dem Ausland? Oder der Krankenflieger der Bundeswehr, der einige italienische Patient*innen in deutsche Krankenhäuser bringen soll?

Am Morgen dann passt mein Mann auf unsere Tochter auf und ich kann mehrere Stunden am Stück an meiner Forschung arbeiten. Während ich im Internet nach Literatur suche, bekomme ich Werbung von einer Hautcreme für Männer, die zu Solidarität in der Corona-Krise aufruft. Eine Sport-Werbung ruft zu Zusammenhalt und Durchhalten auf.

 

Manchmal frage ich mich also, ob unsere Erfahrungen der Krise es überhaupt wert sind beobachtet und beschrieben zu werden.

 

 

Am Vormittag ruft meine Mutter bei uns an und will uns zum Grillen in den Garten einladen… Wir sind irritiert und lehnen ab. Sie frägt, ob wir es immer noch so streng sehen und uns nicht treffen wollen? Ich schüttle den Kopf und frage sie, ob denn mein Vater seine Face-to-Face Konferenzen schon eingestellt hätte? Wir diskutieren über die Gefährdung und ich rede ihr ins Gewissen, dass mein Vater sich besser schützen müsse… Außerdem finden mein Mann und ich es unsolidarisch jetzt im Garten ein Grillfest zu veranstalten, wo doch alle anderen um uns herum in ihren kleinen engen Wohnungen sitzen müssen.

Überhaupt kommen mir die Privilegien meiner Familie in den Sinn. Wir haben schöne, helle und lichtdurchflutete große Wohnungen mit Balkon, Terrasse und Garten. Wir sind nicht in unserer Existenz bedroht und können es uns leisten zu Hause zu bleiben… Hier bei uns tut sich kein soziales Schlachtfeld auf und es finden keine großen gesellschaftlichen Verwerfungen statt… Manchmal frage ich mich also, ob unsere Erfahrungen der Krise es überhaupt wert sind beobachtet und beschrieben zu werden.

 

So kann die Beobachtung meines familiären Mikrokosmos ein minimaler Ausschnitt der unterschiedlichsten Facetten der Covid-19-Krise sein.

 

 

Aber da  fällt mir jemand ein, der zu den Mikrostrukturen von Machtsystemen geforscht hat. Und ja diese scheinbare Banalität der Krise in meiner Familie ist doch Ausdruck einer strukturellen Ungleichheit und sozialen Klassenfrage, die jetzt schon und nach der Krise noch viel mehr aufbrechen werden. Wer wird als Verlierer und wer als Gewinner aus dieser Krise herausgehen? Wer wird traumatisiert sein, existentiell am Boden und wer kann weitermachen wie bisher? Wen wird die Krise wie verändern? So kann die Beobachtung meines familiären Mikrokosmos ein minimaler Ausschnitt der unterschiedlichsten Facetten der Covid-19-Krise sein.

 

Ich merke wie ich selbst auch schon eine Blockwart-Mentalität entwickle und anfange das Verhalten der anderen zu bewerten…

 

 

Am Nachmittag fahre ich mit dem Fahrrad zum Einkaufen. Während ich durch den Hausgang gehe, stelle ich fest, dass meine Eltern Besuch haben! Draußen im Innenhof sitzt auch eine Mutter aus dem Haus am Spielplatz mit ihrem Kind, während sie sich mit einem Nachbarn unterhält, der mit ihr auf der Bank sitzt… Habe ich da etwa was verpasst? Ich merke wie ich selbst auch schon eine Blockwart-Mentalität entwickle und anfange das Verhalten der anderen zu bewerten…

 

Corona-Tagebuch vom 5.4.20

Tag 15 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Schon mehr als zwei Wochen… Die Zeit verschwimmt und rast dahin… Ich verliere langsam das Zeitgefühl, ob nun Wochenende oder irgendein Werktag ist, scheint völlig irrelevant geworden zu sein.

Unsere Nacht war kurz und anstrengend, da wir uns vorgenommen haben den Schlafrhythmus unserer Tochter zu ändern. Es scheint der passende Moment für solche Veränderungen zu sein, die immer den Rhythmus der ganzen Familie auf den Kopf stellen… Ich nutze das frühe Aufstehen, um eine Runde in einem nahegelegenen Park joggen zu gehen. Etwas, dass ich mir schon seit Jahren vornehme! Und jetzt scheint der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein, neue Verhaltensweisen und Routinen einzuführen… Es ist so ruhig und herrlich im Park! Eine Wohltat…

Darüber hinaus hat der Heuschnupfen heute meinen ganzen Tag bestimmt. Die Bäume stehen nun in voller Blüte und meine Nase läuft ohne Ende. Normalerweise sind zu dieser Jahreszeit die Werbung und Medien voll mit Artikeln über die Allergiesaison, aber bis jetzt habe ich davon noch nichts gelesen. Wo sind denn die ganzen anderen Heuschnupfenkranken? Es gibt doch einige Frage zu klären wie ich finde. Zum Beispiel die Frage, ob Heuschnupfen-Symptome auch gleich eine Maskenpflicht nach sich ziehen?

Am Nachmittag skypen wir mit meinen Schwiegereltern. Wir haben in ihrem Auftrag einen Liter Desinfektionsmittel für sie in unserer Apotheke gekauft – schlichtes Isopropanol, was jetzt ziemlich teuer geworden ist. Im Laufe der Woche müssen wir dafür eine Übergabe organisieren. Außerdem erzählen sie noch wie ein Nachbar in ihrer Wohnsiedlung die Polizei gerufen hatte, weil zwei Kinder auf einem Spielplatz gespielt haben, was ja derzeit verboten ist.

 

Ist die körperliche Unversehrtheit oder die psychische Unversehrtheit wichtiger?

 

 

Später treffen wir meine Eltern im Garten und sitzen weit voneinander entfernt zum Kuchenessen zusammen… Es fühlt sich gut an mal wieder andere Leute live zu treffen, aber ich habe auch ein schlechtes Gewissen, dass wir es uns hier gut gehen lassen und dabei die Gesundheit meiner Eltern aufs Spiel setzen. Und wieder stellt sich hier die Wertefrage: Ist die körperliche Unversehrtheit oder die psychische Unversehrtheit wichtiger? Und ist jetzt schon der Zeitpunkt gekommen, wo ich Verantwortung für meine Eltern übernehmen muss?

Der Tag geht zu Ende und ich habe heute noch nicht wirklich die Nachrichten gelesen, aber schließlich ist heute Sonntag. Morgen stürze ich mich dann wieder in die neuesten News…

 

Corona-Tagebuch vom 6.4.20

Tag 16 der Ausgangsbeschränkungen in Bayern: Mein Mann hat heute frei und mein Vorsatz eine neue Gewohnheit zu etablieren und täglich joggen gehen zu wollen, klappt gut. Auch heute habe ich mit vielen anderen meine Runden im Park gedreht. Auf den Straßen war in der Früh schon wieder mehr los und es fühlte sich wie ein normaler Arbeitstag an. Die Stadt lebt also noch, was ich am Wochenende schon bezweifelt hatte. Ich habe auch das Gefühl, dass vier Wochen Ausgangssperre auch nicht ausreichen werden, um unsere Gesellschaft und Kultur zu einem wirklichen Umdenken zu bewegen… Wie lange dauert es bis man neue Gewohnheiten und Verhaltensweisen etabliert und implementiert hat? Ich glaube es waren drei Wochen für eine Einzelperson, aber für eine ganze Gesellschaft???

Ich brauche dringend ein Buch von einer Freundin im Umland und frage sie, ob sie noch zur Post geht und es mir schicken kann? Aber sie verneint. Auch sie will sich nicht mehr in die langen Schlangen vor dem Postamt einreihen…

Ich habe schon lange niemand mehr im Hausgang getroffen. Nach der anfänglichen Solidarität und neuen Offenheit scheinen sich jetzt alle aus dem Weg zu gehen und wollen sich nicht mehr begegnen. Das Paket einer Nachbarin, welches bei uns angekommen ist, legen wir vor unsere Tür. So kann sie es kontaktlos abholen.

Am Abend kommt die Nachricht, dass Boris Johnson auf die Intensivstation verlegt wurde… Welche Ironie der Geschichte! Jetzt fehlt nur noch Trump…

Am Nachmittag fahren wir mit dem Auto zu einer nahegelegenen Heidelandschaft. Es ist richtig heiß – viele sind in Sommeroutfits unterwegs. In der nahegelengen Wohnsiedlung ist plötzlich laute Musik zu hören und ein Eiswagen fährt vor. Aus allen möglichen Richtungen strömen plötzlich Kinder und Erwachsen herbei, um dort Eis zu kaufen. Und es scheint ein ganz normaler Sommertag ohne Corona zu sein, denn keiner hält sich an irgendwelche Abstände oder ist alleine unterwegs… Hä, so ist das also hier. In diesem Stadtteil scheint es kein Coronavirus zu geben. Nur die Tatsache, dass unter der Woche zig Menschen ohne Eile und Hast in der Heidelandschaft spazieren gehen, lässt auf besondere Umstände schließen…

 

Corona-Tagebuch vom 7.4.20

Ich habe aufgehört die Tage der Ausgangsbeschränkung zu zählen… Heute war mein Mann wieder arbeiten und meine Tochter und ich auch wieder im „Home Office“-Modus. Allerdings konnte ich mich so gar nicht konzentrieren – es gab einfach zu viele neue Artikel über die Corona-Krise zu lesen.

Mein Mann trat heute eine Dienstfahrt nach Bamberg an und meinte, dort sei nichts zu merken gewesen von den Veränderungen durch den Lockdown… Außer, dass die Autobahn total leer gewesen war und der Geschäftspartner sich entschuldigte, dass er ihn nicht zum Essen einladen konnte.  Anscheinend ist es hier bei uns in München und im Umland schon besonders streng…

Am Nachmittag entstand mal wieder der langersehnte Family-Flow. Jeder ging einfach so ohne großen Plan seinen intrinsischen Tätigkeiten nach und es kehrte eine geschäftige Ruhe in der Wohnung ein. Mein Mann bereitete seine Kamera auf die Aufnahme des anstehenden Vollmonds vor, ich lackierte meine Nägel und unsere Tochter spielte in ihrem Zauberinnenkostüm… Es war so ein Zustand kontemplativen Nichts-Tuns… Herrlich!

Später rief ich spontan meine Schwester an, die gerade mit ihren Mitbewohner*innen im Garten grillte und die endlich die Zeit hatten sich als WG gegenseitig kennenzulernen, denn bisher war es eine reine Arbeits-Zweck-WG gewesen. Jetzt machen sie gemeinsam Fahrradtouren, grillen, backen Kuchen, bestellen den Garten, mixen Cocktails und gehen Eis essen… Fast wehmütig erinnere ich mich an meine eigene WG-Zeit, die genauso unbeschwert gewesen war.

Später planen mein Mann und ich die kommenden Ostertage und überlegen uns leckere Gerichte, die wir gemeinsam kochen können. Einig sind wir uns, dass wir noch vor dem Gründonnerstag einkaufen gehen müssen, damit wir nicht in den total überfüllten Corona-Einkaufsstau geraten…  Das empfehle ich auch meiner Mutter mit der ich später telefoniere, aber ihr ist die Frische wichtiger… Außerdem frägt sie mich, wie wir gerade so die Zeit totschlagen? Ich berichte von unserer Kontemplation und dass unsere Generation normalerweise viel Geld für Retreats ausgibt und man das jetzt eben zu Hause haben könne… Sie sagt nichts und wechselt das Thema.

Am Ende des Tages bleibt die Erkenntnis wie sich plötzlich aus sich selbst heraus Dinge entwickeln können und eine spontane Kreativität entstehen kann, wenn man nicht alles durchplant.

 

Corona-Tagebuch vom 8.4.20

Heute habe ich von der Außenwelt nicht viel mitbekommen und bin in totaler Introspektion und Innenschau versunken. Diesen Zustand hat auch die Tatsache verstärkt, dass wir aufgrund der heißen Sonne den ganzen Tag die Jalousien unten hatten. Die Sonne ist einfach schon zu stark und zu intensiv…  Ich habe fast keine Nachrichten gelesen und deshalb kam Corona heute fast gar nicht in meinen Alltag vor…

Mir graut es vor den ganzen Skype-Gesprächen und Telefonaten rund um Ostern und so genieße ich die Ruhe vor dem Sturm.

Im Verlauf des Tages haben meine Tochter und ich die Wohnung für das Osterfest dekoriert und mit meinen Eltern ein Spargelessen auf Abstand am Sonntag ausgemacht. Wir haben uns dafür entschieden uns wieder zu treffen, denn wer weiß wie viel gemeinsame Zeit uns noch bleibt?

Manchmal denke ich an die Zeit, wenn die Ausgangsbeschränkungen wieder gelockert werden. Wie wird dann alles sein? Wie wird unser Leben „danach“ aussehen? Ich meine alle Gebäude und Einrichtungen stehen ja noch; es gab ja keinen Krieg, aber die Beziehungen und Verhaltensweisen unter den Menschen werden anders sein… das sind sie ja jetzt schon! Alle hetzten auf der Straße aneinander vorbei, gehen sich mit gesenktem Kopf aus dem Weg und gucken sich wenn nur sehr misstrauisch ins Gesicht.

Ich lese, dass interkontinentales Reisen erst wieder ab 2021 möglich sein soll… Es ist einfach Wahnsinn und schlicht unvorstellbar…

Am Abend genieße ich noch die Ruhe und Stille des Frühlingsabends auf unserem Balkon…

 

Corona-Tagebuch vom 9.4.20

Heute Morgen schickt der Kindergarten den Speiseplan für die nächste Woche. Erst verstehe ich nicht so recht was das soll. Dann erst beginne ich zu verstehen, dass der Speiseplan für diejenigen Kinder ist, die weiterhin in den Kindergarten gehen dürfen. Eben die Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen.

Wir färben Eier für Ostern: Meine Tochter erzählt mir, dass sie nachts immer von einem Skelett träumt, dass schon gestorben ist… Ich frage mich, ob das ihre Art der Verarbeitung der Corona-Krise ist? Schließlich reden wir ständig über Infektions- und Todeszahlen.

Später unterschreibe ich zahlreiche Petitionen – für das bedingungslose Grundeinkommen, den Verbleib von Vätern im Kreissaal während der Krise, die Aufnahme von Geflüchteten  aus Moria etc. Es scheint mir als wären noch nie so viele Petitionen gleichzeitig im Umlauf gewesen…

 

Übertreiben wir es, oder unterreiben die es?

 

 

Am Nachmittag mache ich mich bereit für den Einkaufsmarathon vor Ostern. Erstaunlicherweise ist es in den Läden nicht besonders voll, aber viele Regale sind schon leergekauft… Die Stimmung in einer Drogerie ist angespannt… Trotz der Plexiglasfenster an den Kassen haben sie jetzt einen professionellen Platzanweiser, der die Leute darauf hinweist, bitte Abstand beim Anstehen an der Kasse zu halten… Der Security ist ganz entspannt, aber eine der Kassiererinnen ist sehr nervös und schreit die Menschen in der Schlange an, dass sie doch bitte Abstand halten und nur einzeln an die Kasse herantreten sollen. Danach schreit sie den Security an, dass er doch bitte besser auf die Einhaltung der Regeln aufpassen solle. Ich komme mir vor wie auf einem Militärgelände.

Auf dem Rückweg fahre ich an meinem alten Büro vorbei und bin erstaunt, dass dort noch so viele Fahrräder stehen… Übertreiben wir es, oder unterreiben die es?

Ich treffe ein befreundetes Paar meiner Eltern und wir reden kurz: Die Frau ruft mir aus drei Metern Entfernung überglücklich zu, dass es so gut wie nie zuvor gehe und es einfach herrlich sei! Die Stadt sei so leer und sie können einfach überall Fahrradfahren… Momentan treffe ich nur die Freunde meine Eltern, die fast alle im gleichen Stadtteil wohnen. Unsere Freunde dagegen wohnen über die ganze Stadt verteilt… Wann werden wir die wiedersehen???

Am Abend machen wir in der Abenddämmerung mit unserer Tochter einen Spaziergang im Stadtviertel. Es ist herrlich ruhig und wir können uns ungezwungen bewegen… Wann sind wir das letzte Mal einfach so vor uns hin spaziert?

 

Corona-Tagebuch vom 10.4.20

Am Morgen gehe ich zum Joggen in den Park in aller Frühe. Am Ende der Runde wurde der Park merklich voller und plötzlich wurde es richtig schwierig sich in dem Wirrwarr an Joggern, Fußgängern, Hunden und Kindern aus dem Weg zu gehen.

Im Laufe des Tages schicken mir mehrere Freunde Fotos von ihren heutigen Ausflügen. In der Zeit vor Corona wären sie nicht wirklich spektakulär gewesen – fast schon langweilig… Aber jetzt erscheinen mir diese Ausflugsfotos als das Höchste der Gefühle! Wann können wir endlich wieder in den Bergen auf deine Alm wandern, ans Meer fahren, zum Campen fahren…? Auch das erschien mir früher alles wenig aufregend und als Standard im Vergleich zu Reisen nach Indonesien oder Südamerika… Jetzt plane ich stattdessen Radtouren im Münchner Norden, der gerade von einer Lokalzeitung als besonders ruhig und wenig frequentiert beschrieben wurde…

Im Laufe des Tages kommen bei unserer Tochter viele alte Dinge aus dem Kindergarten hoch, die sie bisher noch nicht erzählt hatte oder die wir im Alltagsstress vor dem Lockdown schlichtweg nicht mitbekommen hatten.

 

Sitzen denn jetzt wirklich alle ab Punkt 20 Uhr vorm Fernseher zur Tagesschau?

 

 
Nach dem Abendessen machen wir wieder einen Spaziergang in der Abenddämmerung. Die Luft riecht schwer nach Frühlingsblumen. Um diese Uhrzeit ist immer noch einiges los und es sind Menschen unterwegs, die mir in der Nachbarschaft noch nie begegnet sind. Wer war denn sonst um diese Uhrzeit noch unterwegs, außer den Hundebesitzern? Es sind auch einige Jugendliche unterwegs, die sich an versteckten Ecken im Wald treffen. Auch auffällig viele Nachtradler sind unterwegs.

Ich beobachte bei unserem Rundgang die Balkone der Nachbarschaft – fast niemand sitzt auf den Balkonen oder grillt in der Abenddämmerung, obwohl schwül und lau ist… Sitzen denn jetzt wirklich alle ab Punkt 20 Uhr vorm Fernseher zur Tagesschau? Am Ende entdecken wir einen Balkon gegenüber von unserem Haus. Hier wird es richtig zelebriert: Der ganze Balkon ist mit über und über mit Feuerfackeln beleuchtet, während die Bewohner gemächlich in einer riesigen Hängematte schaukeln!

 

Corona-Tagebuch vom 13.4.20

Die Osterfeiertage lassen sich am besten als „tief im Wald“ zusammenfassen.

Obwohl nur ein Besuch bei meinen Eltern auf der Agenda stand, waren die Tage vor dem Ostersonntag geschäftig und stressig. Das Überlegen von alternativen Osterritualen nahm viel Raum und Zeit ein. Allgemein war die Stimmung in bei unseren Eltern nicht gut, da jahrzehntelang zelebrierte Rituale und Festessen nicht abgehalten werden konnten. Uns Jungen dagegen fiel es viel leichter neue Rituale zu überlegen. Wir färbten Eier, verschickten selbstgemachte Ostervideos und telefonierten viel. Aber insgesamt blieb die Stimmung auch bei uns getrübt… Konnte sich doch keiner wirklich Hoffnung machen, dass bald alles wieder vorbei sein wird.

Auch mit unseren Freund*innen in den anderen Stadtteilen telefonierten wir viel. Gemeinsam überlegten wir uns „Exit-Strategien“, um uns mit den Kindern bald wieder besuchen zu können.

Aber im Großen und Ganzen blieb Corona für uns an diesem Wochenende fern. Da wir nicht einkaufen mussten und viel Zeit zu Hause verbrachten, blieben die Presseartikel der einzige Kontakt zu Corona.

 

Es kommt mir so vor wie ein wieder Zurückfinden in ein „natürliches“, inneres, individuelles Gleichgewicht an Tagesablauf, Interessen und Tätigkeiten.

 

 

Ich bemerke außerdem wie das Virus unsere Mittelschichtsblase nur emotional betrifft. Lieb gewonnene Freiheiten können nicht mehr ausgeübt werden; wir dürfen uns nicht treffen – das nimmt uns emotional mit. Aber nicht existentiell… Vielmehr bleibt für uns alle viel Raum für die Aufarbeitung und Neuausrichtung unserer Beziehungen und Wertesysteme… Damit, habe ich den Eindruck, ist unsere Blase beschäftigt. Es kommt mir so vor wie ein wieder Zurückfinden in ein „natürliches“, inneres, individuelles Gleichgewicht an Tagesablauf, Interessen und Tätigkeiten. Jeder macht gerade einfach das, was er schon immer gerne mal machen und ausprobieren wollte. Werte werden hinterfragt, Vergangenheit und Erinnerungen bearbeitet und geteilt, neue Gewohnheiten und Vorlieben entdeckt… Das Virus scheint unserer Blase eine große Innenschau zu ermöglichen. Einzig allein die Nachrichten durchbrechen manchmal diese Innenschau… Allerdings durchzieht diese Mittelschichtsblase eine Altersdifferenzierung… Die Älteren scheinen mir ziemlich mit dem eigenen Tod beschäftigt zu sein.

Passend zur Blase machten wir an einem der Nachmittage mit dem Rad einen Ausflug in einen gut situierten Nachbarstadtteil, um dort Eis essen zu gehen. Und auch dort war das Blasengefühl noch viel präsenter. Kaum jemand war mit Mundschutz unterwegs im Vergleich zu unserem Stadtteil. Alles schien sich wie ein Sonntagnachmittag anzufühlen. Viele fuhren Fahrrad und ließen es sich in den zahlreichen Eisdielen gut gehen. Es war einiges los! Die Dichte der Menschen in diesem Stadtteil war faszinierend und beängstigend zu gleich. Es schien mir so als ob es die Menschen hier viel weniger ernst nahmen wie in unserem schlechter situierten Stadtteil. Es ist also doch so eine Frage, wenn man eine großzügige Altbauwohnung hat im Vergleich zu einer engen stickigen Zweizimmerwohnung.

Auf dem Rückweg fuhren wir in einen nahgelegenen Wald. Auch hier war viel los, aber wir zogen uns auf eine ruhige Lichtung zurück, wo bereits zwei riesige selbstgebaute Tipis standen. Mit unserer Tochter bauten wir gemeinsam ein drittes Tipi und genossen die gemeinsame Zeit. Erst als eine andere Familie mit ihren Kindern auf die Lichtung kam und die Tipis anschauen wollte, wurde unsere Idylle zerstört. Sogleich wieselten die Kinder umher und erkundeten die Tipis während wir Eltern versuchten auf den nötigen Abstand zwischen unseren Kindern zu achten. Wie soll das bloß werden, wenn der Kindergarten wieder losgeht? Was macht das mit den Kleinsten, wenn wir sie ständig ermahnen den Abstand zu anderen einzuhalten. Da stehen wir jedenfalls noch tief im Wald…

 

Corona-Tagebuch vom 14.-15.4.20

Gestern führte das Einkaufen wieder zu einem regelrechten „Maskentheater“ im ADIL. Ich wollte ein Elektrogerät aus einer der Glasvitrinen kaufen, aber die Verkäuferin verstand mich nicht mit dem Mundschutz hinter der Plexiglasscheibe an der Kasse. Stattdessen musste ich meine Maske abnehmen und laut losbrüllen… Dabei mussten wir beide lachen angesichts der Absurdität der Situation. Als ich noch etwas vergessen hatte und schnell an einer Schlange an der Kasse vorbeiwollte, zuckten plötzlich alle zurück und ich wählte doch den regulären Eingang.

Mein Onkel im Haus hatte Geburtstag… Umständlich wurde überlegt wie er mit wem und auf welche Art und Weise feiern könnte. Am Ende feierte er mit meinen Eltern im Garten an einer langen Tischtafel mit der sich die 1,5 Meter-Abstand gut einhalten ließen.

Gestern rief nach langer Zeit eine alte Freundin aus Frankreich an. Wir hatten uns lange nicht mehr gesprochen… Sie erzählte mir von den Maßnahmen in Frankreich, dass ihr Freund in Italien lebe und sie sich nicht rechtzeitig Gedanken gemacht hatten, um sich gemeinsam in eines der Länder zu begeben. Es war schön und irgendwie verbindend von Menschen in anderen Ländern zu hören, dass alle momentan die gleichen Probleme haben.

Heute erzählte mir meine Mutter, dass es im Stadtteil nun eine öffentliche Sammelaktion von Essen, Hygieneartikeln und Spielsachen gibt, um sie Hilfsbedürftigen im Stadtteil zukommen zu lassen. Interessanterweise aber holt seit Tagen keiner diese Dinge ab… Jetzt frage ich mich was dahinter steckt? Liegt es an der mangelnden Kommunikation, oder an einem Stigma oder oder… Ich schlage ihr vor es an die Arbeit der Tafeln zu koppeln… Aber auch diese haben momentan geschlossen.

 

Hier bei uns ist alles so ruhig und der „neue“ Alltag scheint schon irgendwie zur Normalität geworden zu sein.

 

 

Später bekomme ich eine E-Mail von einem Co-Working Space der Ende April nun leider schließen muss. Sehr schade! Das Projekt gab es noch nicht lange und die Community etablierte sich gerade erst…

Ich stelle fest, dass ich schon lange keinen Artikel mehr von einem Mediziner oder Virologen gelesen habe… Auch überhaupt, was ist denn derzeit in den Kliniken los? Hier bei uns ist alles so ruhig und der „neue“ Alltag scheint schon irgendwie zur Normalität geworden zu sein.

 

Corona -Tagebuch vom 16.- 17.4.20

16.4.

Ich telefoniere mit einer Freundin, die im Münchner Umland lebt. Sie treibt die Frage umher wie sie endlich ihre Schwiegereltern wieder treffen kann. Deswegen wartet sie gespannt auf die für heute angesetzte Pressekonferenz[5] der Bayerischen Staatsregierung. Sie hat schon mehrere Schlachtpläne ausgearbeitet wie sie im „Graubereich“ doch noch ein Treffen organisieren kann.

Am Nachmittag misten wir unseren Keller aus, was wir schon seit Jahren vorhaben. Wir schwelgen in Erinnerungen und entledigen uns von altem Zeugs. Erstaunlicherweise sind auch viele Nachbar*innen aus dem Haus unterwegs, die auch altes Zeug loswerden wollen und plötzlich keine große Scheu mehr haben sich wieder zu unterhalten.

Später kommt unsere Tochter plötzlich mit dem Wunsch ihren Kindergartenfreund*innen Nachrichten schicken zu wollen. Die letzten Wochen war das gar kein Thema. Jetzt plötzlich, wo nun verkündet wurde, dass die Kindergärten noch voraussichtlich bis Ende der Sommerferien geschlossen sein werden, möchte sie Kontakt aufnehmen. Wir verschicken einige Videos und Sprachnachrichten. Bis nach den Sommerferien – das wäre in Bayern ja erst ab Mitte September… Krass! Ich bin wütend, dass die ganzen Kommissionen die Familien mit kleinen Kindern wohl vergessen zu scheinen haben. Weibliche Gleichberechtigung ade! Ich merke jetzt schon wie ich mich statt um das Home Office um den Haushalt kümmere.

Ab Montag aber soll es nun weitere Lockerungen geben. Ich bin hin und hergerissen. Einerseits ist es natürlich notwendig, dass alles sich wieder normalisiert – aber irgendwie genieße ich die Stille und Ruhe auch… Es sind bis jetzt schon so viele neue Dinge entstanden… Was können wir davon beibehalten? Was wird zu neuen Routinen? Haben die Menschen sich verändert? Fast trauere ich dieser Zeit des Innehaltens schon wieder hinterher… Ich bekomme auch etwas Panik sobald ich darüber nachdenke was ich noch alles schaffen und erledigen wollte. Wen ich noch alles anrufen wollte in dieser stillen Zeit. Ich habe das Gefühl ab Montag schließt sich wieder das Zeitfenster das Raum lies für diese neuen Erfahrungen…

Wir überlegen für Ende August schon mal einen Urlaub innerhalb von Deutschland zu buchen… Sicher ist sicher… Wenn plötzlich 81 Mio. Menschen innerhalb von Deutschland Urlaub machen wollen, wird das eng!

 

17.4.

Ich telefoniere mit einer Freundin aus München. Sie arbeitet als Therapeutin nun den ganzen Tag im Home-Office und macht ihre Therapien per Telefon. Sie betreut v.a. Geflüchtete. Die leiden gerade unter der Vollisolierung mancher Gemeinschaftsunterkünfte aufgrund von Infizierten.

 

Irgendwie werden die Masken doch bald zu treuen Begleitern werden und vielleicht auch zu schicken Accessoires?

 

 

Heute haben wir mehrere Stunden damit verbracht Schutzmasken aus Stoff zu bestellen. Irgendwie werden diese doch bald zu treuen Begleitern werden und vielleicht auch zu schicken Accessoires?

Am Abend machen wir einen Abendspaziergang in einen nahegelegenen Park. Es ist noch einiges los. Wir kommen uns vor wie im Urlaub, die Luft ist noch warm und riecht intensiv nach Blüten. Plötzlich fährt eine Polizeistreife vor und biegt in einen abgesperrten Spielplatz ab. Wir erschrecken. Einige Jugendliche hatten sich dort getroffen. Die Beamten reden mit den Jugendlichen und sie verlassen das Gelände. Aber wo können sie sich dann treffen?

 

Corona-Tagebuch vom 18.-21.4.20

Die Tage verschwimmen und es wird immer schwieriger die Veränderungen der neuen Corona-Lebensphase zu beschreiben. Das Befremden des Eigenen fällt mir immer schwerer.

Der neue Alltag hat sich etabliert und fühlt sich schon so normal an…

 

Ich habe diese „Isolation“ nicht freiwillig gewählt, aber sie ergibt sich für mich ganz zwangsläufig…

 

 

Obwohl sich schon einige unserer früheren Aktivitäten und Vereine wieder zurück gemeldet haben, scheint eine Teilnahme noch so fern zu sein. Alleine die Vorstellung dafür in einen anderen Stadtteil mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, erscheint mir gerade noch undenkbar, auch wenn ab nächster Woche in Bayern in den Öffentlichen Schutzmasken getragen werden sollen. Die Aktivitäten meiner ganzen Familie, die vorher über das ganze Stadtgebiet verteilt waren, liegen derzeit auf Eis. Nur mein Mann fährt weiterhin in seine Arbeit mit dem Auto. Und da wir auch unsere Freunde nicht besuchen können, mein Coworking Space sich aufgelöst hat, der Kindergarten zu ist, die Vereine, Restaurants und Bars geschlossen haben, die Verwandtschaft entweder im Haus wohnt oder nicht besucht werden darf, gibt es momentan keinen Grund für uns in andere Stadtteile zu fahren. Nur für das Einkaufen und die Fahrt ins Grüne gehen wir raus…. Sonst machen wir unsere Bestellungen im Internet, gehen online zum Arzt, treffen unsere Kolleg*innen und Freund*innen online und belegen Online-Kurse. Dabei habe ich keine besondere Angst mich „draußen“ mit Corona anzustecken… Ich habe diese „Isolation“ nicht freiwillig gewählt, aber sie ergibt sich für mich ganz zwangsläufig…

Es ist schon seltsam, der öffentliche Raum scheint sich auf wenige Funktionen reduziert zu haben bzw. wird mir bewusst wie zweckfunktional ich diesen Stadtraum bisher genutzt habe. München an sich existiert für mich immer weniger als Einheit, denn das gemeinsame Erleben im öffentlichen Raum, in öffentlichen Einrichtungen… all das fehlt nun. Welchen Unterschied macht es also noch in dieser Stadt oder sonst wo zu leben? Ich frage mich, was die Stadt als solches noch ausmacht? Der räumliche Radius ist zwar klein geworden und nicht mehr auf die Stadt als solches bezogen, aber trotzdem fühle ich mich an ein kollektives gemeinsames Erleben angeschlossen, dass in anderen Räumen jenseits des Urbanen stattfindet.

 

Werden sich dann Zeit und Raum noch mehr auflösen und verschwinden? Werden die Kinder ihre Freund*innen überhaupt noch wiedererkennen?

 

 

Zu dem alten Leben vor der Corona-Krise zurückzukehren, erscheint mir gerade unmöglich zu sein. Das „davor“ gibt es so nicht mehr! Wann wird das Neue fertig sein? Ich plane nicht mehr… Die Wiedereröffnung der Kindergärten soll erst nach den Sommerferien stattfinden… Das wären jetzt noch fünf Monate… Wah! Eine unfassbar lange Zeitspanne… Werden sich dann Zeit und Raum noch mehr auflösen und verschwinden? Werden die Kinder ihre Freund*innen überhaupt noch wiedererkennen?

Im Hintergrund läuft das Lied „Waves“ von Sekuoia[6]. Wie Wellen fließt die Zeit dahin, stetig, treibend, im Fluss, unaufhörlich – ohne Anfang, ohne Ende. Alles verschwimmt.

 

Corona-Tagebuch vom 22.-27.4.20

22.4.20

Heute sind unsere bestellten selbstgemachten Stoffmasken angekommen. Wir haben sie auf einer Flohmarktseite bei einer Privatperson bestellt. Da kosteten sie noch vier Euro das Stück. Jetzt kosten sie schon 10 Euro… Die Gummibänder der Masken waren leider kurz, daraufhin meinte die Verkäuferin, dass sie notgedrungen Haargummis nehmen musste, weil die normalen Gummibänder schon längst ausverkauft waren. Ganz Deutschland näht also jetzt zu Hause Mundschutzmasken – schließlich geht es ab Montag los! Beim Einkaufen, beim Arzt, in Bus und Bahn muss dann eine Gesichtsbedeckung getragen werden…

Per Skype telefoniere ich mit einer Kollegin. Das Bild ist schlecht, weil ihre Tochter gerade parallel per Zoom Unterricht hat. Wir schalten das Bild aus. Später stellt sich heraus, dass die Tochter gar nicht im Online-Unterricht war, sondern mit ihren Freundinnen eine private Zoomparty veranstaltet hat.

Die Kollegin berichtet mir außerdem davon, dass sie gerade total abhängig von ihrem Mann ist, da sie mit der freien Bildungsarbeit momentan kein Geld verdient. Sie kann sich zwar jetzt um Familie und Haus kümmern, aber fühlt sich wie in die 50er Jahre zurück versetzt. Sie überlegt nun fieberhaft wie sie sich jobtechnisch unabhängiger machen kann…Während unseres Gesprächs kommt immer wieder meine Tochter vorbei, die etwas braucht, frägt oder mitbringt… Es ist schwer gleichzeitig ihr und der Kollegin bei Skype gerecht zu werden…

 

23.4.20

Die Ballettstunde meiner Tochter fand heute zum ersten Mal per Zoom statt. Es war ein großer Spaß! Die Kinder haben munter in die Mikrofone geplappert und die Eltern haben im Hintergrund mitgetanzt. Es war herrlich erfrischend anders und für jeden, sowohl für die Tanzlehrerin als auch für uns Familien eine neue Erfahrung!

Beim Telefonat mit einem Kollegen klagte er mir sein Leid wie er und seine Frau im Home-Office mit ihrem kleinen Sohn langsam verrückt werden und sie bald den Aufstand wagen wollen, indem sie die Großeltern wieder ins Boot holen. Ich gebe ihm den Tipp, dass gerade eine Münchner Partei eine Initiative plant, um Kindergärten schrittweise mit einem speziellen Frischluftkonzept wieder zu eröffnen.

Außerdem ist unserem Stadtteil ein Corona-Interview-Projekt geplant. Mich juckt es in den Fingern dort mitzumachen um die Veränderungen in der im größeren Stil zu untersuchen. Aber ich muss mich angesichts der wenigen verbleibenden Arbeitszeit meiner eigenen Forschung widmen.

Ich gehe am Nachmittag einkaufen in einem großen Einkaufszentrum in der Nähe und die Atmosphäre dort ist gespenstisch… In diesem riesigen Gebäude haben nur etwa fünf Geschäfte auf von sonst mehr als vierzig. Das Licht ist gedimmt und nur vereinzelt huschen ein paar Gestalten mit Mundschutz durch die Gänge…

 

24.4.20

Meine Eltern laden uns am Nachmittag zum Grillen ein. Wir sagen zu, auch wenn immer noch ein seltsames Gefühl bleibt. Uns erreichen Nachrichten von einer Kindergartenbekannten, die ihre Tochter zu ihren Eltern nach Rumänien bringen musste, weil sie alleinerziehend ist und sich nicht mehr alleine um das Kind kümmern konnte. Unfassbar! Jetzt weiß sie nicht, wann sie ihr Kind wieder sehen wird aufgrund der Reisebeschränkungen.

 

Wir haben uns seit drei Monaten nicht gesehen. Und auch er scheint sich verändert zu haben…

 

 

Eine andere Freundin ist kurzfristig wieder nach Deutschland zurück gekommen, obwohl sie schon lange im Ausland lebte. Weil die Grenzen auf unbestimmte Zeit geschlossen sind, musste sie jetzt ihren Job und ihre Wohnung dort aufgeben. Ein anderes Paar was gerade in Trennung lebt, musste wieder zusammenziehen, da das Einkommen aufgrund von Kurzarbeit nicht für zwei Wohnungen reichte.

Der Grillabend ist bedrückend und wir hängen unseren Gedanken hinterher…

Später kommt noch kurz ein Freund vorbei, der etwas aus unserem Keller abholen will. Es herrscht ein merkwürdiger Abstand zwischen uns. Nicht nur räumlich, sondern auch emotional… Wir haben uns seit drei Monaten nicht gesehen. Und auch er scheint sich verändert zu haben…

 

25.4.20

Meine Schwester möchte demnächst zu Besuch nach München kommen. Ihr fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Wir überlegen gemeinsam unter welchen „Auflagen“ sie zu uns kommen könnte… Aber es scheint mir alles total unsicher zu sein. Bahnfahren mit Mundschutz, aber mit welchem triftigen Grund? Soll sie dann erstmal in Quarantäne, wenn sie hier ankommt? Kann sie hier auch andere Leute treffen? Inwiefern müssen unsere Eltern geschützt werden? Fragen über Fragen und Entscheidungen, die man ins Blaue hineintreffen muss….

 

Die Gegenwart aus der Zukunft herausdenken wie Otto Scharmer mit seiner Theorie U so schön sagt.

 

 

Am Abend telefoniere ich mit einer alten Freundin. Sie arbeitet in einer Initiative für Nachhaltigkeit und Klimawandel. Ihr diesjähriges Aktionsmotto ist „Systemwandel“… wie passend! Wir spinnen gemeinsam an Ideen und Lösungen wie so ein neues „System“ aussehen könnte in der Post-Corona-Zeit… Gleichzeitig versuchen wir uns auch selbst darin vorzustellen. Wir sind uns einig, dass wir jetzt gerade was auf die Beine stellen müssen. Einfach ins Blaue hinein! Die Gegenwart aus der Zukunft herausdenken wie Otto Scharmer mit seiner Theorie U[7] so schön sagt.

 

26.4.20

Plötzlich beobachte ich wieder mehr Flugzeuge am Himmel und nehme mehr Autolärm wahr. Das frühere Leben kommt langsam zurück… Aber ich weiß noch nicht, was aus meinem früheren Leben wieder zurückkommt…

Am Nachmittag machen wir einen Ausflug mit dem Rad zu einem Krautgarten in der Nähe. Wäre nicht so ein Gemeinschaftsgarten das Projekt der Stunde? Im Freien, mit genügend Abstand an der frischen Luft, soziale Klassen und transkulturell verbindend? Körperlich die Digitalisierung ausgleichend?

 

27.4.20

Zufällig treffe ich den Nachbarn mit seiner Tochter von nebenan. Ich frage wie es ihnen so geht. Er und seine Frau konnten bis jetzt nicht arbeiten – sie ist Verkäuferin und er hat eine Vorerkrankung… Ihm fällt die Decke auf den Kopf und er weiß nicht wann er jemals wieder arbeiten gehen kann. Er macht sie auch Sorgen um seine Tochter, die nicht in den Kindergarten kann und so ihr Deutsch wieder verlernt… Ich erzähle ihm von unserer Situation. Aber ich kann ihm momentan auch nicht so wirklich anbieten, die Kinder zusammen spielen zu lassen…Am Ende frage ich ihn noch, ob wir uns das Rad seiner Tochter mal zum Ausprobieren ausleihen dürfen. Es ist ein guter Zeitpunkt, um jetzt das Fahrradfahren zu üben.

 

Auch fällt mir diese plötzliche physische Nähe schwer…

 

 

Später ist vor der Garage im Hof groß was los! Mehrere Nachbar*innen mit ihren Kindern laufen spielend umher, es werden Dinge repariert, Sache über Ebay Kleinanzeigen verkauft etc. Ich bin verwundert und verdutzt… Vor zwei Wochen noch sind alle voreinander im Hausgang geflohen… Jetzt scheinen alle nur noch wenig Berührungsängste zu haben… Einerseits schön, denn alle scheinen den Kontakt zu brauchen, aber mir schwant da Übles in naher Zukunft, wenn alle jetzt so lasch mit dem Abstand umgehen wie hier… Auch fällt mir diese plötzliche physische Nähe schwer… Es überfrachtet meine Sinne. Mir fehlen diese physischen Kontakte nicht wirklich, da ich ja jeden Tag skype, telefoniere oder bei Zoom Leute treffe.

Am Abend erfahre ich, dass meinem Mann jetzt auch Kurzarbeit droht.

 

28.4.20

Heute fand die zweite Ballettstunde auf Zoom mit meiner Tochter statt. Letztes Mal war es noch eine lustige Erfahrung, jetzt war es nur noch nervig… Die Bildqualität war schlecht, die Tonqualität war schlecht, ein totales Durcheinander… Sehr schade – die Kompetenz der Tanzlehrerin ist das eine, die Qualität der digitalen Umsetzung das andere.

Nach dem Mittagessen war ich mit meiner Tochter im Stadtteil spazieren und habe währenddessen und danach so eine tiefe Stille und Ruhe im Inneren empfunden. Herrlich!

Eigentlich wollte ja eine meiner Schwestern aus einem anderen Bundesland zum Geburtstag meiner Tochter nach München anreisen… Vor ein paar Wochen noch wäre das noch gar nicht zur Debatte gestanden. Jetzt war es ein Riesending… Wir haben hin und her überlegt, aber da bis 10.5. in Bayern weiter die Ausgangsbeschränkungen gelten, darf man ja auch nicht Verwandte besuchen. Und die Polizei kontrolliert in den Zügen… Sie kommt jetzt wann anders.

 

Es scheint eine Ewigkeit zwischen unserem letzten Kontakt zu liegen und es kommt mir so vor als trennen uns plötzlich Welten.

 

 

Später rufe eine alte Bekannte mit Kindern in einem anderen Stadtteil an… Es scheint eine Ewigkeit zwischen unserem letzten Kontakt zu liegen und es kommt mir so vor als trennen uns plötzlich Welten.

Mein Mann traf sich am Abend mit seiner Männerrunde, die sich mittlerweile wöchentlich auf Zoom zum Feierabendbier trifft. Aber heute war die Luft dicke – mehrere haben Kurzarbeit bekommen und stritten sich über das Thema Geld.

Auch die Kolleg*innen von meinem Mann hat es getroffen… Er als Betriebsleiter ist noch nicht davon betroffen, aber seine Angestellten… Es sind harte Einschnitte und die Stimmung ist schlecht.

 

So nehmen wir den „Blockwarten“ den Wind aus den Segeln.

 

 

29.4.20

Heute haben meine Tochter und ich nach fast zwei Monaten wieder die U-Bahn benutzt. Masken, Absperrbänder und Hinweistafeln überall… Platz ohne Ende in der U-Bahn… Es war wie eine kleine Rückkehr in die alte Normalität. Meine Tochter trägt jetzt auch immer eine Stoffmaske – mit dem gleichen Blümchenmuster wie ich – und es entlastet mich ungemein. So kann keiner was Blödes sagen, wenn sie umherspringt. So nehmen wir den „Blockwarten“ den Wind aus den Segeln.

 

Wie sehr doch auch dem öffentlichen Raum das unbeschwerte Lachen der Kinder fehlt…

 

 
Im Bäcker trafen wir eine Nachbarin, die eine Tochter mit einer geistigen Behinderung hat, die in einer betreuten Wohngemeinschaft mit Studierenden zusammenwohnt. Seit der Corona-Krise darf sie nicht mehr besucht werden. Und auch die Studierenden dürfen zum Schutz der Bewohner*innen nicht mehr raus…

Auf unserem Rückweg hat es sich meine Tochter nicht nehmen lassen an einem nahen Brunnen ausgiebig zu spielen. Die lange Spielplatzabstinenz macht ihr langsam zu schaffen… Wie sehr doch auch dem öffentlichen Raum das unbeschwerte Lachen der Kinder fehlt…

 

30.4.20

Am Vormittag schreibe ich meiner betreuenden Person an der Universität eine Nachricht, dass sich meine Forschung verzögert, weil ich mit Kind im Home-Office arbeite. Ich frage die Person wie die Lage bei ihr ist?

Später gehe ich zu einem Supermarkt in der Nähe, der in einer Ecke liegt, die weniger gut betucht ist. Alle gehen zwar mit Maske einkaufen, aber es scheint mir drinnen noch mehr Chaos zu herrschen als sonst. Die Gänge sind zugestellt und es ist furchtbar eng…

Mit einer Bekannten verabrede ich mich zum Telefonieren. Wir tauschen uns über das Arbeiten mit Kind im Home-Office aus. Beide sind wir genervt davon, dass es bei all den Diskussionen nur um den Handel und die Wirtschaft geht. Aber wer denkt an die Eltern und die Rechte von Kindern?

 

1.5.20

Heute ist Tag der Arbeit, zum ersten Mal ohne Demos… Eigentlich ist dieser Tag ja wichtiger denn je und man sollte in für die nächsten Jahre in „Tag der Kurzarbeit“ umbenennen.

Am Vormittag treffen wir uns mit Freunden und deren Kindern zum Weißwurstfrühstück auf Zoom. Es ist lustig und wir genießen das Beisammensein. Aber es ist auch anstrengend. Alle haben einen großen Mitteilungsbedarf und reden wild durcheinander, auch die Kinder. Zoom hat dabei die Angewohnheit immer die Person auf den Hauptbildschirm zu nehmen, die gerade redet. Uff…

 

Die Krise, so scheint es mir, war auch vorher hier schon eine Krise.

 

 

Am Nachmittag machen wir einen Spaziergang in unserer Straße und kommen an drei leerstehenden Läden vorbei. Alle drei haben während der Corona-Krise schließen müssen… Es sieht gespenstisch aus… Sind das die ersten Vorboten? Aber wenn ich ehrlich bin, wer ist schon noch in diese Läden gegangen und hat dort eingekauft? Niemand wirklich mehr, außer ein paar alten Menschen, die nicht mehr soweit laufen konnten. Es waren schon vor der Krise Läden (ein Schreibwarenladen, ein Küchengerätehändler und ein Kiosk) die damals kein Geschäft mehr gemacht haben. Zu sehr hat das große Shoppingcenter die Kund*innen abgezogen… Hier gab es keine Solidaritätsaktionen mit den Läden oder ähnliches… Sie haben einfach still und klanglos geschlossen und keiner wird sie vermissen…

Mit diesen Eindrücken im Hinterkopf spaziere ich mit meiner Tochter weiter. Dieser Teil unseres Stadtteils wird mir immer fremder – wir entdecken einen kleinen Pfad durch ein nicht mehr gepflegtes Biotop… Früher waren hier mal Teiche und Frösche. Jetzt liegt hier Sperrmüll und Abfall. Wir folgen dem Pfad und kommen an einer unbekannten Stelle wieder heraus. Das Fremdheitsgefühl begleitet uns auf dem Nachhausweg… Die Krise, so scheint es mir, war auch vorher hier schon eine Krise. Was wird dann erst in ein paar Monaten sein?

 

2.5.20

Heute kam unser neues Bett an. Endlich ein qualitativ hochwertiges! Wir haben lange dafür gespart und die Jahre des unbequemen Liegens sind hoffentlich vorbei.

Ich habe das Angebot in einem neuen Zwischennutzungsraum im Stadtteil weiterzuarbeiten. Die Gruppe an Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Kreativen trifft sich per Zoom zum gemeinsamen Gespräch. Viele sind in einer prekären Lage und haben keinerlei Aufträge mehr. Sie können sich gerade noch so dieses Zwischennutzungsbüro leisten. Viele wollen sich sogar einen Arbeitsplatz teilen….

 

Die Krise ist schon da – am unteren Ende unserer Straße.

 

 

Ich gehe wieder bei NARMO einkaufen und es sind seltsame Szenen. Menschen mit Reisekoffern, die sich mit Essen eindecken, andere haben sich notdürftig einen Schal um die Nase gebunden, viele sind mit kaputten Schuhen und zerrissenen Jacken unterwegs. Misstrauische Blicke, Tristesse, Misere… Die Lage scheint sich binnen weniger Tage verschlechtert zu haben. Wie geht es den Menschen in dem riesigen Arbeiterwohnheim nebenan? Die Krise ist schon da – am unteren Ende unserer Straße.

 

3.5.20

Nachmittags dreht meine Tochter jetzt öfters mit dem Fahrrad eine Runde. Und es ist immer einiges los im Innenhof vor der Garage. Es wird Gerümpel entsorgt, Möbel gebaut, Pflanzen gepflanzt und und und… Ist das hier eine neue Art von Solidarität? Eine andere als in gehobenen Mittelschichtsvierteln? Herzstück dieser ganzen Aktionen ist unser Hausmeister, der während der Krise seinen Job verloren hat und jetzt immer an Haus und Hof werkelt.

 

4.5.20

Ich bin im Aufräumfieber und nehme mir eine Ecke der Wohnung vor, die dringend aufgeräumt und aussortiert werden muss. Ich bin wie im Flow und bald ist alles ordentlich.  Kurz denke ich darüber nach was ich alles in meinem und unseren Alltag verändert habe… Es sind vor allem kleine und subtile Dinge… Aber ganz klar die neue Normalität ist schon zur alltäglichen für uns geworden.

 

5.5.20

Heute waren wir seit Monaten mal wieder beim Kinderarzt. Diese Vorsorgeuntersuchung wurde lange vorbereitet. Mit einem extra Telefonat mit Vorfeld. Dort angekommen gibt es keinen Wartebereich mehr, nur die Schlange vor dem Anmeldeschalter – alles natürlich mit Spuckschutz ausgestattet. Überall hängen Desinfektionsmittel herum. Allen Ernstes soll ich meiner vierjährigen Tochter eine Urinprobe abnehmen… Ich muss mit dem Becher in der Kloschüssel herumhantieren… Es ist grauenvoll und das zu Coronazeiten!

Zum Glück akzeptiert meine Tochter die Masken und so ist auch der Arzt mit Maske, der die Untersuchung vornimmt, kein Problem. Während der Untersuchung erscheint mit der Umgang mit den Kindern unverändert zu sein. Wie schön, dass hier noch ganz unverkrampft mit den Kindern umgegangen wird. Der Arzt erzählt mir, dass er am Wochenende heiraten wird…. Ich kommentiere, dass das ja dann etwas ganz Besonderes werden wird. So was bleibt noch mehr in Erinnerung… Ich weiß nicht, ob er meinen Kommentar so toll findet…

 

Wir haben uns eingerichtet in der neuen Normalität.

 

 

Am Mittag schaue ich mir die Pressekonferenz[8] über die sogenannten „Exit-Strategien“ in Bayern an. Es scheint mir alles viel zu schnell zu gehen… Klar verstehe ich, dass sonst noch viel mehr bankrottgehen wird. Aber für mich persönlich hätte es so weiter gehen können. Wir haben uns eingerichtet in der neuen Normalität. Später diskutieren mein Mann und ich, was wir mitnehmen wollen von der neuen Realität in die Alte…

Am Nachmittag gehe ich mit meiner Tochter zum MD einkaufen. Sie hat schlechte Laune und tobt im Markt, weil sie etwas nicht bekommt. Als sie sich schlussendlich die Maske vom Gesicht reißt, reißt mir der Geduldsfaden und ich sehe mich nicht mehr in der Lage weiter mit ihr einzukaufen. Was mache ich denn mit einem Rotz und Wasser heulenden Kleinkind an der Kasse? Ich verlasse ohne Einkäufe den Laden.

 

 

Corona-Tagebuch vom 6.5.-15.5.20

6.5.20

Langsam beginnen wieder Vereinssitzungen und andere Treffen stattzufinden. Meine Mutter berichtet von einem Treffen ihrer Partei. Alle saßen bei der Diskussionsrunde alleine an einem Tisch mit jeweils zwei Stühlen Abstand und zusätzlich mit Mundschutz. Meine Mutter meinte, sie haben dadurch sehr wenig verstanden, weil alle so nuscheln hinter ihren Masken und einfach zu leise sprechen.

Auch ich habe bemerkt wie schwer es mir fällt, die Kassier*innen hinter den Plexiglaswänden im Supermarkt zu verstehen. Außerdem kann ich die Reaktionen der Leute viel weniger gut einordnen, da ich ihre Mimik nicht sehe. Dafür achte ich jetzt mehr auf die Augen der Menschen.

 

Heute haben die Spielplätze wieder eröffnet und wir waren zum ersten Mal wieder dort. Ich war geschockt wie viele Kinder und Eltern sich gemeinsam dort tummelten… Wir haben lieber noch etwas gewartet bis weniger los war. Denn schließlich wollten wir am Wochenende zum Geburtstag unserer Tochter die Eltern von meinem Mann sehen, denen es gesundheitlich nicht besonders gut geht. Wollen wir die wieder treffen so müssen wir uns weiterhin schützen, um sie nicht zu gefährden…

 

Wollen wir die wieder treffen so müssen wir uns weiterhin schützen, um sie nicht zu gefährden…

 

 

7.5.20

Ich brauche unbedingt einen Friseurtermin, aber überall wo ich anrufe muss ich mindestens zwei Wochen auf einen Termin warten. Ich überlege eine unserer Nachbarinnen zu fragen, die auch Friseuse ist. Aber ihre Tochter erzählt mir, dass sie momentan 10-Stunden-Schichten schieben muss und nur einen Tag in der Woche frei hat… Da warte ich lieber noch ein bisschen und schneide meine Haare nochmal selbst…

Eine andere Nachbarin räumt fleißig Dinge aus der Wohnung und stapelt sie vor dem Haus. Sie sieht geschafft aus und nervlich am Ende. Ich erinnere mich wie wir vor vier oder sechs Wochen geratscht hatten. Da war sie noch guter Dinge. Doch die zurückliegenden Wochen scheinen an ihr gezehrt zu haben. Aber sie hat wieder Hoffnung, da sie jetzt endlich ihren Laden wieder aufmachen kann.

Während der Mittagspause hören wir plötzlich lautes Kindergeschrei von draußen. Es ist seltsam, dass es draußen wieder so laut ist nach Wochen der öffentlichen Ruhe und Stille. Der Kindergarten von gegenüber hat offensichtlich drei Kinder in der Notbetreuung.

 

8.5.20

Eine Freundin frägt mich, ob ich mit zur Demo am Tag der Befreiung gehen möchte. Eine seltsame Frage in Corona-Zeiten… Die Demo soll mit 1,5 Meter Abstand und Mundschutz stattfinden. Die Leichtigkeit mal eben auf eine Demo zu gehen, scheint mir dahin zu sein. Jetzt bedarf es sorgfältiger Planung und Abwägung. Man muss sich quasi richtig darauf vorbereiten. Aber ich bin an diesem Tag alleine mit meiner Tochter und kann sie nicht mitnehmen. Welches Kind achtet schon auf die 1,5 Meter Abstandsregelung?

Heute erzählte mir unsere Tochter wie alleine und einsam sie sei… Das war die Wochen davor kein Thema. Damals wollte sie auch nie mehr in den Kindergarten zurückgehen. Doch jetzt scheint sie plötzlich keine große Freude mehr zu Hause zu haben… Alle Spielsachen sind durchgespielt, alle Bücher ausgelesen…

 

Wie ungewohnt alles ist…

 

 

9.5.20

Wir laden das Nachbarsmädchen zum Spielen am Nachmittag ein. Was auch eine Premiere ist, da wir sonst nicht viel miteinander zu tun hatten. Außerdem ist es unser erstes Treffen mit anderen Kindern seit zwei Monaten. Wie ungewohnt alles ist…. Vorsichtshalber messen wir vor dem Treffen Fieber… sicher ist sicher… Kurz spielen die Kinder miteinander, dann streiten sie sich furchtbar und machen die Wohnung zum Schlachtfeld… Ob sich da die Spannung der letzten Monate abgebaut hat?

Morgen hat unsere Tochter Geburtstag. Obwohl man jetzt bis zu drei andere Familien treffen darf, wollen wir keine Feier mit Kindern machen – zum Schutze der Großeltern, die sich angekündigt haben. Dafür schreibe ich allen Eltern von ihren Freund*innen, ob sie uns nicht ein schönes Geburtstagsvideos schicken wollen als Ersatz.

 

Alles ist seltsam.

 

 

10.5.20

Heute ist der Geburtstag unserer Tochter. Es ist ein schöner, aber gleichsam seltsamer… Keine Kinderfeier mit Topfschlagen und Gewusel… Unsere Tochter ist traurig… Da helfen auch die beiden Feiern mit den jeweiligen Großeltern nichts… Alles ist seltsam. Immerhin grüßen die Kinder von den Videos. Denn wir mussten feststellen Videos sind besser als Videotelefonate… das klappt mit den Kleinen irgendwie noch nicht. Meine Schwiegereltern treffen wir auch nach langer Zeit wieder das erste Mal – die Stimmung ist freudig, aber auch bedrückt… Denn es gibt, obwohl wir uns wiedersehen können leider keine Hoffnung auf ein baldiges Verschwinden des Virus….

 

Wir haben uns verändert. Nicht nur die Haare sind länger geworden…

 

 

11.5.20

Heute treffen wir zum ersten Mal wieder eine befreundete Familie mit deren Kindern! Wir freuen uns sehr! Aber die neuen Umgangsregeln mit Abstand ohne Umarmungen sind noch nicht eingespielt. Der erste Satz der Familie, als wir gemeinsam unsere Wohnung betreten, ist „Ach, trautes Heim!“. Es ist vertraut und anders zugleich. Wir haben uns verändert. Nicht nur die Haare sind länger geworden… Wir tauschen uns darüber aus, welche Prioritäten wir jetzt setzen? Wir haben alle entschleunigt und festgestellt was wir wirklich brauchen, um glücklich zu sein. Die Kinder tollen herum und sind die glücklichsten Kinder der Welt! Zwei Stunden lang hören und sehen wir sie nicht. Sie sind ganz im Spiel versunken.

Wir planen einen kleinen gemeinsamen Urlaub ins Münchner Umland zu Pfingsten. Früher haben wir dabei immer über die deutschen Grenzen hinweggedacht… Jetzt sind wir froh mal wieder unsere Stadtteile und München verlassen zu können.

 

12.5.20

Ich habe im Stadtteil einen neuen Arbeitsplatz in einem neuen Zwischennutzungsprojekt bezogen. Eine Gruppe von Künstler*innen, Theaterleuten und Wissenschaftler*innen ziehen zusammen in ein leerstehendes Gebäude. Unser erstes Präsenztreffen findet mit Masken statt im großen Kreis. Das Treffen wirkt unbeholfen und es wird nichts wirklich entschieden. Da treffen wir uns lieber weiter per Zoom. Das klappt gut.

 

13.5.20

Auch heute war ich wieder im neuen Zwischennutzungsbüro. Es tut einfach gut wieder unter Leuten zu sein und ein Stück „Arbeitsnormalität“ einkehren zu lassen… Das hat mir doch gefehlt – so gemütlich es zu Hause auch war… Ich unterhalte mich mit einer Künstlerin, die auch kleine Kinder hat über die psychischen Auswirkungen auf diese. Sie berichtet von Einsamkeit, Ängsten und Einnässen ihrer Kinder. Das kann ich nur bestätigen!

 

14.5.20

Ich will in mehrere kleine Geschäfte und Dienstleister im Umkreis gehen und stehe immer wieder vor verschlossenen Türen, weil die Inhaber*innen die Öffnungszeiten spontan geändert haben… Da hängt dann zumeist einfach nur ein Zettel im Schaufenster…

Auf dem Rückweg sehe ich ein riesiges Schild im Fenster vom Elterntreff nebenan. „Wir vermissen euch!“ heißt es dort. Er darf immer noch nicht öffnen.

 

15.5.20

Jeden Tag war ich bis jetzt in meinem neuen Büro. Nach knapp einer Woche scheint es mir schon eine feste Routine zu sein. Dabei fällt mir auf wie leicht es mir mittlerweile fällt mich in kürzester Zeit an eine neue Situation anzupassen. Wie oft haben wir das schon in den letzten Monaten machen müssen… Alle ein bis zwei Wochen änderte sich die Situation und wir passten uns an. Aber nicht allen fällt das so leicht wie die angekündigte Hygiene-Demonstration in München morgen mit mehr als 10.000 Menschen zeigt. Das Thema Verschwörungstheorien ist gerade sehr präsent und virulent!

Ende der Tagebuchaufzeichnungen.


Footnotes

[1] Arte (2019): Ansteckungsgefahr. Epidemien auf dem Vormarsch.

URL: https://www.arte.tv/de/videos/050590-000-A/ansteckungsgefahr-epidemien-auf-dem-vormarsch-wiederholung-von-2014/  [25.03.2020]

[2] NDR (2019): Das Coronavirus-Update mit Christian Drosten. Podcast.

URL: https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html [30.7.2020]

[3] Gläser, Waldtraud (2020): Woher kommt der Begriff „VUCA“. In: VUCA Blog.

URL: https://www.vuca-welt.de/woher-kommt-vuca-2/  [31.07.2020]

[4] BR24 Live (30.03.2020):  Corona-Beschränkungen – Söder zieht Bilanz.

URL: https://www.br.de/nachrichten/bayern/mo-corona-beschraenkungen-soeder-informiert-ueber-naechste-schritte,RufPWzL [31.07.2020]

[5] BR24Live (16.04.2020): Corona-Exit. Söder will langsamer vorgehen.

URL: https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-exit-ministerpraesident-soeder-will-langsamer-vorgehen,RwGB1OY [31.07.2020]

[6] Sekuoia (12.02.2015): Waves.

URL: https://www.youtube.com/watch?v=UqwZndiOatk&list=RDKZbvC1ypubE&index=7  [21.04.2020]

[7] Scharmer, Otto (2019): Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendung. Auer-System-Verlag.

[8] BR (05.05.2020): Bayern beschließt Lockerungen für Schulen, Kitas, Gastronomie.

URL: https://www.br.de/nachrichten/bayern/schulen-kitas-gastro-soeder-praesentiert-lockerungsplan,Ry5sQdJ [31.07.2020]