23/02/21

„Gestern schienst Du frischer.“

Mein Kosmonautentraum

Ich habe Erhard Schüttpelz im Frühsommer 1997 bei einem akademischen Umtrunk an der Universität zu Köln im Anschluss an den Habilitationsvortrag von Georg Stanitzek über Alexander Kluges eingemachte Elefantenwünsche kennengelernt. Erst kurz zuvor war ich einem Überbrückungsjob als Kreditorenbuchhalter der Ford Werke AG durch ein DFG-Zusageschreiben aus Konstanz mit knapper Not entronnen. Da mir jemand den Tipp gegeben hatte, dass ich bei dem Umtrunk einen der beiden Postdocs des dortigen Graduiertenkollegs Theorie der Literatur und Kommunikation treffen würde, stellte ich mich ihm als kommender Stipendiat vor. Dummerweise verwechselte ich seinen Vornamen mit dem eines Freundes, ‚Eckhart‘, als ich ihm sagte, dass ich mich für Dekonstruktion interessiere. Umgehend wurde ich darüber belehrt, dass die Missachtung des Eigennamens eines der schlimmsten Verbrechen sei, dessen sich ein Dekonstruktivist schuldig machen könne. Das schien mir übertrieben, schließlich ging es hier nur um eine Verwechslung. Schon leicht verärgert begann ich damit, den komischen neuen Kollegen einem spontanen Humortest zu unterziehen und gab nun einige Entstellungen seines Familiennamens wie ‚Saufmantel‘ oder ‚Kippnerz‘ zum Besten. Obwohl wir uns mitten in einer Karnevalshochburg befanden, verbesserte das meine Lage nicht, im Gegenteil: Mit größtmöglicher Kälte wurde mir beschieden, dass ich mich nicht wundern dürfe, wenn er mich in Konstanz sechs Wochen lang nicht grüssen würde, schliesslich sei er ein Postdoc und ich nur Doktorand. Ich replizierte, dass ich ihn dann mindestens acht Wochen lang nicht grüßen würde und auch gar nicht wüsste, ob ich danach damit überhaupt wieder anfangen sollte. Das war unser Erstkontakt; wir schieden voneinander als gute Feinde.

Monate später: Es war tiefer Herbst und man konnte im Bodensee-Dauernebel tagelang die Hand vor Augen nicht sehen. Die Forschungskolloquien im Graduiertenkolleg hatten begonnen, auch die im benachbarten Sonderforschungsbereich Literatur und Anthropologie. Die beiden Kölner Kontrahenten vom Frühsommer hatten sich seit Oktober mit professioneller Neugierde belauert und waren zu ungefähr demselben Zwischenfazit gekommen, nämlich dass der jeweils andere zweifellos ein arrogantes, allem Anschein nach aber kein dummes Arschloch sei. Dann geschah das Unvermeidliche: Zufällig trafen wir uns zur Mittagszeit vor der Universitätsbibliothek und hatten beide Hunger. Irgendwo in Menschliches, Allzumenschliches findet sich eine Sottise Friedrich Nietzsches gegen die Französische Revolution, wonach der schnellste Weg zur Gleichheit der Menschen zwei Stunden Bergsteigen sei, weil auf diese Weise ein Verbrecher und ein Heiliger physiologisch in das exakt gleiche Wesen verwandelt werden könnten. Etwas von dieser egalitären Dynamik fand auch hier statt und so saßen wir uns kurze Zeit später in der Mensa gegenüber, zwei gräuliche Plastiktabletts mit Salatbouquets von der Reichenau vor uns und ein Gewirr aus knallbunt angestrichenen Heizungsrohren über uns, weil sich die brutalistische BRD-Universitätsarchitektur der 60er Jahre in Konstanz in ein Pippi Langstrumpf-Kostüm gezwängt hatte.

„Was hörst Du denn so für Musik?“

Erhard konnte nicht ahnen, dass seine Frage bei mir in Sekundenbruchteilen einen ganzen Regenbogen aus Erinnerungen hervorzauberte: 1981, ich war zwölf und sah meinen ersten Kinofilm für Erwachsene, Flash Gordon, für den Queen den Soundtrack übernommen hatte und der mich augenblicklich zum glühenden Freddie Mercury-Fan machte; 1982, als ich in einem Express-Kasten in Pulheim im Erftkreis kein rotschwarzweisses Boulevardblatt, sondern meine erste Single der Deutsch Amerikanischen Freundschaft fand und große Angst hatte, ich könnte damit meine Stereokompaktanlage ruiniert haben, weil ich noch nie in meinem Leben so seltsame Geräusche gehört hatte;[1] 1983 – ich bin mir auf der Spur – dann das abrupte Ersticken der Neuen deutschen Welle an der Schlager-Pest, während ich mich gerade zu den Genialen Dilletanten aus dem fernen West-Berlin vorgearbeitet hatte, über das ich aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und aus den besorgten Gesichtern meiner jeweilig Erziehungsberechtigten Bescheid wusste.

Ich antwortete ihm, dass ich zu Beginn der 80er Jahre zwar eine sehr intensive Liebesaffäre mit dem deutschen Post-Punk um Die tödliche Doris und die Einstürzenden Neubauten gehabt, aber nach dem Untergang dieser Szene Popmusik insgesamt jahrelang boykottiert und statt dessen zu lesen angefangen hätte.

„Kennst Du denn auch Kosmonautentraum?“

„Ja klar“, antwortete ich, „ich hab drei Platten von denen im Schrank.“

Nicht nur das, ich wusste sogar noch ganz genau, wie ich an meine erste Kosmonautentraum-Scheibe gekommen war: Ich hatte irgendwann 1982/83 nicht nur die gängigen Massenmedien für popinteressierte Vorstadt-Pubertierende – die ZDF-Hitparade, die WDR1-Schlagerrallye und Bravo – hinter mir gelassen, sondern war auch an die Grenzen der wichtigsten Kulturinstitution meiner Adoleszenz gestoßen: das Saturn-Kaufhaus in Köln am Hansaring. Ein Besuch in diesem dreistöckigen Plattentempel war ein Festtag für mich und das karge Taschengeld, aufgestockt durch den sonntäglichen Flohmarkt-Verkauf nicht mehr benötigter Legosteine auf dem Gelände des alten Autokinos am Randkanal, wurde immer erst am Ende schwierigster Entscheidungsprozesse investiert, schließlich ging es jedesmal um dreizehn Mark neunzig. Abgesehen von den fehlenden finanziellen Ressourcen fand die Auswahl auch auf der Basis unzureichender Information statt, d.h. anhand von Plattenkritiken und eines Geschmacksurteils über die Plattenhülle. Selbst im Saturn gab es Anfang der 80er Jahre keine Anspielstationen. So schlich ich stundenlang an den endlosen Plattenregalen entlang, die wie in einer Leihbücherei nach Signaturen – Name der Plattenfirma plus Bestellnummer – geordnet standen, zog ein Album aus dem Regal, studierte eingehend Hülle und Playlist, schob es zurück und wanderte weiter. Eines Tages allerdings führte meine Wanderung vor ein Rätsel: Ich konnte die aus einem Fanzine sorgfältig notierte Bestellnummer in den Regalen des Saturn nicht finden. Das war noch nie passiert, aber der Typ an der Infotheke bestätigte den schlimmen Verdacht: Zick Zack 123 führen wir nicht. Da er sah, dass bei dem jungen Kunden eine Welt zerbrach, beugte er sich vor und flüsterte mir zu, dass ich es mal bei Eigelstein probieren solle, einem unabhängigen Plattenlabel um die Ecke, die könnten Zick Zack 123 haben. Befriedigt, aber auch aufgekratzt wie einer der Kinder-Detektive bei Enid Blyton zog ich los, um das bekannte Universum zu verlassen.

Eigelstein residierte nicht in einem imposanten backsteinexpressionistischen Hochhaus, sondern in einer ganz normalen Mietwohnung. Ein Mann mit langen Haaren öffnete mir und sah dabei so muffig aus, dass ich ihn fragte, ob alles o.k. sei. Das Label habe gerade pleite gemacht, bekam ich zu hören – LPs eine Mark, Singles fünfzig Pfennige. Das tat mir zwar einerseits leid für ihn, aber andererseits zählte ich sofort nach, wie viel Geld ich bei mir hatte. Es waren ungefähr zwanzig Mark, d.h. abzüglich der Busfahrkarte zurück in die Vorstadt und zwei Cheeseburger bei McDonald’s reichte das für unglaubliche fünfzehn Alben oder dreissig Singles. Ich fühlte mich wie Sterntaler: Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich Platten rein nach dem Cover aussuchen. Und so stolperte ich wenig später über das Porträt eines freundlich lächelnden kaukasischen Mannes mit ausrasierten Schläfen, einem olivenfarbenen Krawattenknoten und breiten goldenen Schulterklappen, bei dem es sich, so der Seitentext, offenbar um „JURI GAGARIN“ (Zick Zack 100) handelte, der „DEN WEG IN DEN KOSMOS“ bahnte. Hatte ich noch nie von gehört. Der Text, der wie ein Gedicht linksbündig noch einige Zeilen weiter ging, erläuterte mir: „MIT SEINEM / RAUMFLUG / VOR ZWANZIG / JAHREN / BEGANN / DIE / PHANTASTISCHE / TÄTIGKEIT / DES MENSCHEN / IM WELTRAUM“. Das war schräg und kostete bloß eine Mark.

„Aha, hmm, tja“, murmelte Erhard, schob nervös das Brillengestell den Nasenrücken hoch und kratzte sich am Hinterkopf.

„Die zweite LP, hast Du die auch?“

„Ja. Die gelbe, nicht?“

Tagediebe (Zick Zack 200) war eine ziemliche Enttäuschung, schon direkt beim Auspacken, denn ich hatte sie beim Rip-Off-Vertrieb per Post bestellt: Statt in einer anständigen Kartonhülle steckte die Scheibe in durchsichtiger Plastikfolie mit einem blauen Aufkleber links oben in der Ecke und statt aus schwarzem war sie aus gelbem Vinyl. Schon vom Drumherum her war die Platte die Verweigerung einer Platte.

„Meinst Du eigentlich, dass das eine Gute-Laune-Platte war?“

„Nee, auf keinen Fall. Das war doch alles nur so hingenölt.“

Was für gute Laune? Niemand hatte Anfang der 80er Jahre gute Laune außer Ronald Reagan und Fräulein Menke, die anderen warteten darauf, dass irgendwer den roten Knopf drückte – bis zum Kollaps nicht viel Zeit. Überhaupt war Kosmonautentraum extrem schwierig zu kategorisieren. Zwar gab es einen Korg MS20, aber dann klimperte auch jemand auf einem echten Klavier herum, d.h. es war keine konsequent elektronische Musik wie bei DAF (und tanzen konnte man dazu schon gar nicht); zwar entwickelten sich die Stücke oft wie ein bassgesteuertes Delirium in Zeitlupe, aber dann konnte man auf einmal doch traditionelle Songs erkennen, d.h. es war keine unhörbare Kunstperformance wie Die tödliche Doris; zwar gab mir die Rhythmusarbeit eine erste Ahnung davon, was Surrealismus heißen könnte, aber dann schien doch nur ein mieser Dorftrommler am Werk zu sein, d.h. es war keine Wiedergeburt des Schlagzeugs aus dem Geiste der Schrottplätze und Hausbesetzerbarrikaden wie bei den Einstürzenden Neubauten.

„Das habe ich mir auch gesagt, als ich damals aus dem Studio kam.“

Nun schob ich das Brillengestell aufgeregt den Nasenrücken hoch und blinzelte in das trübe Winterlicht der Konstanzer Mensa. Dieser Mensch hatte hinter Kosmonautentraum gesteckt? Das ist Süsskind? Als ich am Abend von der Uni zurück nach Hause in meine 35qm Wohnung in der Fürstenbergstraße 32B im Ortsteil Wollmatingen kam, griff ich mir sofort meine drei Kosmonautentraum-Platten, die ich jahrelang nicht mehr beachtet hatte. Tatsächlich, auf dem Cover der Mini-LP Livorno 1956 (Zick Zack 160) sah man einen jungen Erhard Schüttpelz mit einer mächtigen Irokesenmähne neben einem Bandkollegen auf einer weißen Couch sitzen. Umgeben war das Schwarzweiss-Foto von einer Art türkisblau eingefärbtem Strukturputz, der nach Mondoberfläche aussah. Ich war perplex, denn ich hätte nie damit gerechnet, dass diese beiden unverbundenen Teile meines Lebens jemals miteinander in Berührung kommen könnten.

Seit jenem Mittagessen sind Erhard und ich Freunde und wir konnten uns während aller Höhen und Tiefen immer auf diesen einen rauschfrei bleibenden Kanal verlassen. Natürlich hörte ich in den folgenden Tagen Kosmonautentraum noch einmal rauf und runter. Als der schwer verkaterte Postdoc zu mir in meinen fünfzehn Jahre alten und an drei Stellen durchgerosteten Fiesta stieg, um nach Zürich zu fahren und im Rietberg Museum die Ausstellung Wege ins Paradies, oder: Die Liebe zum Stein in China zu besuchen, zitierte ich ihm fröhlich die Liedzeile: „Gestern schienst Du frischer.“ Es war vor allem auf den stundenlangen Autofahrten von Konstanz nach Köln und zurück, dass ich ihn mit Fragen zu Kosmonautentraum löcherte. Dabei wurde schnell klar, dass wir zwei sehr verschiedene Sichtweisen auf die gleiche Sache hatten: Die objektive Parteilichkeit des dreizehn- oder vierzehnjährigen Fans war mit der Innenperspektive des acht Jahre – und damit popkulturell gesehen: Äonen – älteren Szeneakteurs kaum zu vermitteln. Während ich Der goldene Reiter, Polizisten und Ich und die Wirklichkeit für gleichauthentische Kunstwerke des kapitalistischen Realismus gehalten hatte, wurden die beiden ersten Stücke vom Punkpapst als Trittbrettfahrerei und Überwachungsstaatskitsch abgeurteilt; während es mir mit Kosmonautentraum immerhin so ernst gewesen war, dass ich zumindest für Livorno 1956 und Tagediebe den vollen Ladenpreis bezahlt hatte, war er sich nicht sicher, ob es sich bei dem Ganzen in Wirklichkeit nicht um Popmusik, sondern um einen Studentenstreich handelte – die beste Plattenkritik, die sie je bekommen hätten, habe in einem Hannoveraner Stadtmagazin gestanden und den Tenor gehabt, dass Juri Gagarin zu Eisbein mit Sauerkraut großartig klänge.

Trotz dieser Schwierigkeit setzte sich nach und nach, Autobahnkilometer für Autobahnkilometer, aber teilweise auch erst Jahre später aus seinen Erzählungen für mich ein fragmentarisches Bild der Band zusammen. Es wurde immer wieder von Sherlock Holmes-Anfällen gestört, in deren Verlauf mir mit Verschwörermiene NDW-Preziosen erst hingeworfen und dann, wenn ich mich wieder mal als zu blöd erwiesen hatte, gnädigerweise auch entschlüsselt wurden: Die Lieder auf den LPs seien nach dem Vorbild von Brian Eno so angeordnet worden, dass die Platten am Ende immer langsamer würden; bei Kosmonautentraum Nr. 8 auf der Single Liebesmühn (Zick Zack 41) handle es sich um den grauenhaft gescheiterten Versuch, Burundi Black einzudeutschen; und „die dunklen Brüste“ auf Ein Herz oder Zwei gehörten Grace Jones. Erhard war als Germanistik-Student in Hannover in die Band des Sängers und Texters Ziggy XY geraten, die der hehren Lehre der Genialen Dilletanten folgend darauf bestand, dass niemand ein Instrument spielen können sollte oder, so er doch ein Instrument beherrschte oder sonstwie musikalisch war, nicht ‚sein‘ Instrument spielen durfte. So landete Erhard als Organist am Bass, womit er – wohl durch den nach Studioaufnahmen und Konzerten einsetzenden Übungseffekt – in Werkzeugmacher nicht weniger als den zweitbesten Basslauf der gesamten Neuen deutschen Welle hinlegte.[2] Vollständig schien das primitivistische Unterlaufen der funktionalen Ausdifferenzierung sowieso nicht funktioniert zu haben, denn der Organist spielte am Ende doch den Syntheziser und das Piano – und bei einem Stück auf Livorno 1956 sogar alle Instrumente. Ein Punk sei er schon vor Studienbeginn gewesen: Er habe gerade in der Familienbadewanne geplantscht, als während John Peel’s Music on BFBS plötzlich ein undefinierbarer Krach aus dem Radio gedrungen sei, der ihn senkrecht in der Wanne aufgerichtet habe – die Sex Pistols. Und schließlich, das traurige Ende nach einem Verteilungskampf: Eine Jeansfirma verwendete das eingängige Klavierintro von Juri Gagarin als Reklame-Jingle und die GEMA Lizenzgebühren spülten 8.000,- DM in die Kasse – zwei der Musiker waren GEMA-Mitglieder, die beiden anderen, als wahre Punks, nicht. Erhard ging lieber nach England und wurde Akademiker.

Universalismus auf Umwegen? Auf dem Sampler Lieber zuviel als zuwenig (Zick Zack 45) ist Kosmonautentraum Nr. 10 zu finden und der gefiel mir immer ganz gut: „Du bist mir fremd / Du bist mir so fremd / und trotzdem / schenk ich Dir mein Herz.“[3]

Aus: Beiblatt zum Sampler Wunder gibt es immer wieder (1982, Zick Zack 190)

 


Footnotes

[1] Da ich A- und B-Seite nicht unterscheiden konnte, legte ich Rote Lippen zuerst auf. Auf der anderen Seite befand sich Der Räuber und der Prinz. Das schien mir ein Kinderlied zu sein, deshalb zog ich ihm den Schlager vor.

[2] Der beste findet sich in Amanita von Leben und Arbeiten (Zick Zack 105).

[3] Ein Dankeschön für Kritik geht an Frederic Ponten.