ETHNOLOGIE ALS BERUF
Zunächst möchte man in diese (nicht neue, wiederkehrende) Diskussion um die Verklärung oder aber Verurteilung der Praxen und Subjektverständnisse anderer Kollektive einwerfen: Nicht die Ethnologie als Disziplin, sondern kultur-, also modernitätskritische Intellektuelle des 18., 19. und des 20. – und vielleicht auch des 21. – Jahrhunderts haben ‘die Anderen’ verklärt: Philosophen, Literaten, Künstler, gegenwärtig ebenso Survival-Trainer, oder Hebammen; und EthnologInnen – nicht indes als WissenschaftlerInnen, sondern als politisch oder kulturkritisch Engagierte. Es ist fast zu banal: Der Ethnologie als Wissenschaft geht es mitnichten darum, jeden ‘noch so absonderlichen’ Brauch zu verklären – und ebenso wenig kann es ihr darum gehen, ihn normativ zu bewerten, aus dem Blick der Menschenrechte zu verurteilen. Man kann auch hier Max Webers Vortrag zu ‘Wissenschaft als Beruf’ in Anschlag bringen – in einem Vortrag zu Ethnologie als Beruf ginge es nach wie vor darum, Analyse und Kritik auseinanderzuhalten. Ethische Positionierungen gehören in das politische oder intellektuelle Leben, oder zum Beruf der Philosophie.
Die Ethnologie hingegen ist – ebenso wie die Soziologie – keine normative Wissenschaft. Ihre Fragen sind andere: Wozu dient eine soziale Institution, welcher sozialen Logik gehorcht sie, im Vergleich zu dem, was dem Ethnologen vertraut ist? Tatsächlich teilen Ethnologie und Soziologie sowie Archäologie dieselben Leitfragen; dieselben theoretischen, und z.T. auch dieselben methodischen Zugänge. Daher lassen sich alle drei Disziplinen unter dem Begriff der Anthropologie zusammenfassen – auch wenn sie sich auf je andere ‘soziale Tatsachen’ spezialisiert haben. Die geteilten Leitfragen sind zwei – eine theoretische und eine empirische: 1) Was ist eigentlich eine ‘Gesellschaft’ oder ‘Kultur’ überhaupt, wie wird das Soziale oder ‘Gesellschaft’ je konstituiert und wie transformiert, welche Entitäten sind dabei sozial aktiv, gelten als socii? Und 2) mit welcher Gesellschaft hat man es je zu tun, was sind Differenzen und Gemeinsamkeiten des kollektiven Lebens, verglichen mit denen, in denen der Ethnologe, die Ethnologin ausgebildet wurde; und wie sind diese Gesellschaften oder Praxen zu dem geworden was sie sind? In beiden Fragen gilt es, gerade nicht involviert zu sein, aus der Distanz zu blicken. Selbst bei derart unhinterfragbaren normativen Standards wie der Menschenrechtsidee handelt es sich bekanntlich um eine kollektive, und kontingente Erfindung, die historisch aufklärbar ist.
Dabei mag der Soziologie die Distanz leichter fallen – die kulturelle Grundlage der ‘Beforschten’ und ‘Forschenden’ ist dieselbe, während ethnologische Forschung immer erneut methodologische und ethische Probleme aufwirft, die unter den Begriffen der ‘Essentialisierung’, ‘Nostrifizierung’, ‘Inkommensurabilität’ entsprechend intensiv diskutiert werden – viel intensiver, als es in der Soziologie der Fall ist (in der untergründig oft noch ein Evolutionismus mitschwingt – die Rede von ‘vormodernen’, ‘archaischen’ Kollektiven). Gleichwohl lässt sich der Vorwurf der Verklärung wohl nicht ganz entkräften: Auch die EthnologIn nimmt eine moralische Haltung ein, sie kann nämlich kaum umhin, um jene unwiderrufliche Transformation der Kulturen zu trauern, zu der sie selbst beiträgt: Traurige Tropen heißt daher der gesellschaftlich bekannteste Titel von Claude Lévi-Strauss. Umgekehrt ist der Vorwurf, verklärt würden damit – in bestimmten Fällen – ‘absonderliche, kranke, abscheuliche’ Institutionen, derart ethnozentrisch und positivistisch, normalisierend und pathologisierend, wie man es nach Lévi-Strauss, nach Canguilhem und Foucault nicht für möglich gehalten hätte. Der SZ-Artikel ist in der Tat mehrfach irritierend: weil er der Ethnologie eine unreflektiert, naiv bewertende Praxis vorwirft – und dies aus einer viel weniger reflektierten, buchstäblich imperialen, eurozentrischen, und evolutionistischen Position.
Der Artikel ist aber auch irritierend, weil er zugleich Recht hat – weil die Spannung zwischen analytischer Distanz und dem eigenen normativem Standpunkt bleibt, weil modernen Subjekten das gesellschaftliche Imaginäre der Menschenrechte als unverrückbar erscheint, als fest begründet – in letzter Instanz können wir uns dieses normativen Standpunkts, der Heiligkeit der individuellen menschlichen Natur, nicht entrücken: schon wegen der Verhaftetheit am eigenen Leben, an der eigenen Individualität oder Existenz nicht. (Wie Hans Joas zu Recht bemerkt, ist dabei keineswegs gesichert, dass ‘wir’ der Idee der Menschenrechte selbst praktisch stets treu bleiben.)
Kurz: Weder darf die Ethnologie als Beruf ihre analytische Distanz aufgeben. Sie hat weder für noch gegen die Menschenrechtsidee zu optieren – sondern kollektive Existenzweisen zu beschreiben. Dagegen sind Rechtsphilosophie und Recht gefragt, wenn es um die Einschätzung der Menschenrechtsidee, um ethische Fragen ihrer Begründung; um die Beurteilung ihrer Folgen im Blick auf andere Rechtsgüter geht. Je fallweise ist der Konflikt zwischen zwei Rechtsansprüchen zu entscheiden – den individuellen und kollektiven Menschenrechten. Noch kann die Ethnologie sich einer (und sei es impliziten) Bewertung enthalten: als Wissenschaftler, die dazu beitragen, dass die von ihr untersuchten Kollektive andere werden; und als solche, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Imaginären stehen, in ihm gründen: dem zentralen gesellschaftlichen Imaginären des Individuums, dem fundierenden Außen moderner Demokratie, ihrem sakralen Grund. Mit anderen Worten, es geht hier um ein Problem, das in definitive, einseitige Lösungen nicht auflösbar ist. Das Problem nennt sich ‘Differenz’ kollektiver Existenzen, oder von Gesellschaften – die in keinem Fall fix, homogen und unveränderlich sind, oder ‘unmöglich’; und die gerade deshalb auf Fixierung drängen, sich notwendig differentiell schließen.