Teilnehmende Namensgebung
Seltsam bei der Diskussion um die Namensänderung ist, wie vor allem Gegner der Umbenennung auf fachfremde Argumente zurückgreifen. Da geht es um Etymologie, viel Geschichte, auch Nationalgeschichte, um Hochschulpolitik und mitunter sehr stark rückwärtsgewandt um die Suche nach einer reinen, essentialistisch aufgefaßten „Urform“ hinter den einzelnen Namen. In diesem Beitrag möchte ich als Alternative ausprobieren, was passiert, wenn wir hingegen den Werkzeugkasten unserer eigenen Disziplin anwenden, also beispielsweise die teilnehmende Beobachtung. Ich werde durchgängig das ethnographische Präsens verwenden:
Es ist 1986 und in meiner Tasche ist ein Studentenausweis der Uni Münster, darin ist als Hauptfach „Völkerkunde“ eingetragen. Das geht so in Ordnung, denn an der Tür unseres Instituts steht auch „Seminar für Völkerkunde“ und in den „Blättern zur Berufskunde“, die ich vom Arbeitsamt bei der Studienberatung bekommen habe, steht auch „Völkerkundler (Ethnologe)“. Als Nebenfächer stehen in meinem Ausweis noch „Philosophie, Kath. Theologie, Germanistik, Soziologie, Politikwissenschaften, Psychologie“.
Plus ça change … ? Seitdem diese Studienbescheinigung ausgestellt wurde, ist der Studiengang in Münster von “Völkerkunde” in “Kultur- und Sozialanthropologie” umbenannt worden, die Fachschaft heißt im BA jetzt “KuSA” statt “Ethnologie” und den Fachbereich “Alte und Außereuropäische Sprachen und Kulturen”, in dem ich Fachschaftsvertreter war, gibt es unter der Bezeichnung auch nicht mehr – Nebenfächer im Magister-Studiengang bekanntlich ebensowenig.
Im Studentensekretariat fragen sie etwas mürrisch, ob ich mich nicht entscheiden könne, aber dagegen tun können sie nichts. Ich kann mich tatsächlich in dieser Hinsicht schlecht entscheiden. Als Prof. Schott mich beim ersten Gespräch fragt, weshalb ich denn Völkerkunde studieren wolle, antworte ich, das sei wenigstens ein Fach, wo man etwas über die Verbindungen zwischen den Lebensbereichen lernt. Er findet die Antwort gut und wohl auch, dass ich sein Seminar „Wirtschaft und Religion“ direkt als Beispiel nenne. Und es gibt viele Studis, die das Fach gut finden, denn hier geht es um Feldforschung statt um verstaubte Bücher und Geschichte. Wir treten hier an, die Welt zu verbessern, indem wir uns um die Beziehung von Wirtschaft und Religion am Beispiel der Bulsa und Lyela kümmern, Seminare mit Medizinern über Gesundheit in Afrika besuchen und Seminare mit der Indologie, wo wir die armen Indologen manchmal bemitleiden, die nur über die Herkunft von Wörtern in alten Texten brüten, während es bei uns ja um die gesellschaftliche Praxis in Gegenwart und Zukunft geht.
In diesem Jahr trete ich auch in die DGV ein, die ihre Tagung in Köln hat. Da tritt als Keynote Speaker unter anderem Michael Agar auf, der uns über Wittgensteins Sprachspiele in Interviews mit dem Österreichischen Präsidenten Waldheim erzählt. Eingeladen wurde er, glaube ich, von Thomas Hauschild, bei dem ich ein Jahr später ein Seminar mit Texten aus der aktuellen amerikanischen Kulturanthropologie mache. Und ich sehe im Rechenzentrum auf einem monochromen Bildschirm meine allererste Email, die aus Kent kommt, wohin eine Gruppe von „early adopters“ um Thomas Schweizer gute Kontakte unterhält. Das Fach hat also vielleicht einen altmodischen Namen, aber es ist trotzdem herrlich breit und international aufgestellt, von den Bulsa und den Lyela in Burkina Faso („ehemals Obervolta“) über die amerikanisch aufbereiteten Österreicher Waldheim und Wittgenstein bis zu Emails die quasi zeitgleich sowohl in England als auch in Deutschland auf dem Bildschirm erscheinen. Konsequenterweise exmatrikuliere ich mich zwei Jahre später aus den Fächern „Philosophie, Kath. Theologie, Germanistik, Soziologie, Politikwissenschaften, Psychologie“, gehe nach England an die London School of Economics und setze alles auf eine Karte, da steht einfach „Anthropology“ drauf, auf meinem Masterzeugnis steht „Social Anthropology“, meine Promotion ist in „Anthropology“, auf meiner Habilitationsurkunde steht später „In Litteris Ethnologiae“, auf meinem ersten Lehrstuhl „Anthropologie van de Pacific“ und auf meiner jetzigen Professur-Designation „Kulturanthropologie Afrikas“. Für mich ist das alles ein Fach, weitläufig und vielseitig, es bereitet mir keine Identitätsprobleme – wichtig ist mir, dass der Inhalt mir hilft, die Welt zu verstehen, egal wo er herkommt oder unter welcher Überschrift.
Oktober 2017 in Berlin. Ich blicke etwas gelangweilt auf den Zettel, der die Argumente für und gegen eine Umbenennung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde zusammenfasst. Die meisten Argumente habe ich in den letzten 30 Jahren schon mal gehört. Gute Gründe gibt es in allen Teilen der Tabelle, aber für mich ist die Sache klar, da ich nur für das stimmen brauche, was ohnehin auf meiner Dissertationsurkunde und auf meinem Arbeitsvertrag steht. Richtig befremdlich finde ich die Rückwärtsgewandtheit und Geschichtsbesoffenheit mit der eine scheinbare „Geschichtsvergessenheit“ im Fach beklagt wird. Man überbietet sich mit irgendwelchen Funden aus frühen Zeiten, wo die jetzt vorgeschlagenen Begriffe in negativen Kontexten auftauchen. Da geht es um die Herkunft von Namen statt um die Pragmatik von Sprachspielen. Das fände nicht nur Wittgenstein seltsam, sondern das muss eigentlich jeden wundern, der ein Fach betreibt, das immer betont, wie wichtig es ist, was Menschen aus den althergebrachten Kulturgütern und Namen machen, die sie vorfinden, wie sie innovativ aus Fehlern lernen und wie ihr Tun davon erfüllt ist, was sie erreichen wollen.
Jetzt kommt die Abstimmung. Ich blicke mich um und merke, dass viele Gegner der Umbenennung nicht im Saal sind. Das ist gut für das Ergebnis, aber schade für die danach einsetzende Diskussion, denn sie verpassen was jetzt geschieht. In dem Moment, als das Ergebnis bekannt gemacht wird, scheint ein zentnerschwerer Stein von den Herzen der Meisten im Saal zu fallen. Geradezu euphorischer Applaus, vor allem bei den Jüngeren. Liminalität und communitas verbreiten sich, die Welt scheint sich zu öffnen und der Horizont der Möglichkeiten scheint auf einmal breiter zu werden. Es ist wie oft in einer Situation der teilnehmenden Beobachtung: Mir tun die anderen leid, die nicht dabei sind und zugleich fühle ich mich angehalten, etwas von dem Erlebten in einem ethnographischen Bericht festzuhalten.
Mir scheint, das Abstimmungsergebnis hätte auch schon zur DGV-Tagung von 1986 gepaßt, aber wichtiger ist, was jetzt kommt, was wir daraus machen. Nächste Woche fliege ich nach Namibia, Botswana und Zimbabwe. An der University of Namibia arbeiten sie gerade daran, ein neues Fach zu etablieren, das es dort so noch nie gegeben hat, es soll „Anthropology“ heißen.
Thomas Widlok arbeitet derzeit auf der Professur „Kulturanthropologie Afrikas“ an der Universität zu Köln (Institut für Afrikanistik und Ägyptologie). In Köln ist er Sprecher des Kompetenzfeldes „Kulturen und Gesellschaften im Wandel“ und im Vorstand des „Global South Studies Center“. Zu seinen neuesten Publikation gehören „Anthropology and the Economics of Sharing“ (Routledge 2017) sowie „Wir Staatsmenschen“ (Köln 2017).